Gojira - L'Enfant Sauvage

Gojira - L'Enfant Sauvage
Progressive Death Metal
erschienen am 22.06.2012 bei Roadrunner Records
dauert 56:28 min
Bloodchamber-Wertung:

Tracklist

1. Explosia
2. L'enfant Sauvage
3. The Axe
4. Liquid Fire
5. The Wild Healer
6. Planned Obsolescence
7. Mouth Of Kala
8. The Gift Of Guilt
9. Pain Is A Master
10. Born In Winter
11. The Fall

Die Bloodchamber meint:

01.Juli 2012 – kurz nach 18:00 Uhr…
Das vor dem Fenster lauernde Gebilde aus Nebelmatsch, Wolken und trommelnden Regentropfen ist zwar nicht als Sommer zu bezeichnen, eine Gänsehaut treibt einem das Wetter allerdings auch nicht auf die Haut. Doch nur vier Minuten später hat sich dieser Zustand schlagartig geändert. Was ist passiert? Weder eine plötzlich einsetzende Kältefront, noch ein chaotischer Wolkenbruch zeichnen sich für die Epidermiseruption verantwortlich. „Will you make us stronger… When you strike us down?” hallt es durch meine Kopfhörer. Ein hallender, verzerrter Gitarrenschlag setzt ein und was nun folgt ist eine majestätisch-mächtige Rifffolge, wie sie derzeit wohl nur eine Band hervorbringen kann. GOJIRA zaubern mir in diesem Augenblick – und man verzeihe mir die etwas plumpe Wortwahl – einen echt geilen Schauer auf den Rücken. „Explosia“, der Opener des aktuellen Outputs „L’enfant Sauvage“, wird seinem Namen vollends gerecht, vereint er doch alle bekannten Trademarks der Band und erweitert sie um unzählige neue Nuancen, nur um am Ende geheimnisvoll-erhaben zu explodieren.

Die erste Veröffentlichung der Franzosen seit der Unterzeichnung des Vertrages bei Roadrunner Records ist nicht nur mit einigen Vorschusslorbeeren ins Rennen geschickt worden, sondern wird ganz allgemein von Insidern und Kennern der modern-progressiven Death Metal Szene sehnsüchtig erwartet. Das liegt vor allem an den beiden Vorgängerscheiben, die schlicht und ergreifend den Status eines Meisterwerkes verdient haben. Gelingt den Duplantier-Brüdern auch anno 2012 der große Wurf?

Für ein Meisterwerk muss schon etwas mehr erreicht werden, als eine einzige Gänsehaut in 56 Minuten. Und hier beginnt der imposante Weg von „L’enfant Sauvage“. Das Album wächst mit jedem Durchlauf, steigert sich manchmal von Song zu Song und dann sind es beim nächsten Hören wieder andere Titel, die aufs Neue begeistern. Die Grundzutaten aus technisch anspruchsvoller Gitarrenarbeit, massiv groovender Rhythmuswände, Tempovariationen en masse, dissonanten Passagen, bedrückender Atmosphäre und dem typischen GOJIRA-Tapping sind weiterhin vorhanden. Zwei Dinge sind auf „L’enfant Sauvage“ allerdings besonders eindrucksvoll weiterentwickelt worden. Einerseits hat Sänger Joe Duplantier eine ordentliche Qualitätsschippe draufgepackt, andererseits gelingt nun die perfekte Fusion aus Einzigartigkeit, Eingängigkeit und technischer Verspieltheit. Wenn es eins gab, was die Fans an den beiden Vorgängeralben überhaupt kritisieren konnten, dann war es die übertriebene Komplexität hier („From Mars to Sirius“) und die fast schon zu direkte Art da („The Way of all Flesh“). Diese beiden Komponenten werden nun zusammengepackt und zu einem Album zusammengeschweißt, das wieder etwas mehr Zeit braucht als der Vorgänger, sich aber gleichzeitig vom ersten Durchlauf an massiv in die Gedanken einbringt, weil einzelne Riffs oder Melodien einfach so großartig zünden, dass man sie am liebsten mit ins Bett nehmen möchte.

Das trifft auf den angesprochenen Opener ebenso zu, wie auf fast alle anderen Titel. Da wäre das im Midtempo daher drückende „The Axe“, bei dem die fast schon hoffnungsvolle Hintergrundmelodie markant daher kommt. Das anschließende und mit dem gewöhnungsbedürftigen Vocalverzerrer ausstaffierte „Liquid Fire“ hat sich inzwischen zu so etwas wie der Hymne des Albums entwickelt. Spätestens bei „Mouth of Kaia“ werden alle GOJIRA-Anhänger ob der wahnwitzigen Dynamik anerkennend mit dem Kopf nicken. Und wer dann bei „Gift of Guilt“ nicht endlich seine - inzwischen bei mir dauerhaft installierte - Gänsehaut bekommen sollte, der hat und wird mit dieser Band sowieso nichts anfangen können. Der Titel erinnert in seiner Art an das legendäre „Vacuity“ und übertrifft dieses sogar noch!

So bleibt man tatsächlich „nur“ bei einer Gänsehaut stehen. Doch diese geht über die komplette Spielzeit nicht mehr weg. Allein bei dem uninspirierten Zwischenpart „The Wild Healer“ und dem unzugänglichen „Born in Winter“ gönnt sie sich eine Pause. Nun könnte man argumentieren, dass der Vorgänger besser (weil direkter) und „From Mars…“ ebenfalls besser (weil komplexer) war, aber es wird immer Fürsprecher für so etwas geben. „L’enfant Sauvage“ ist GOJIRA in Reinform, eine konsequente Weiterentwicklung und die perfekte Melange der Vorgänger zugleich. Mehr Dynamik, Wucht und Explosivität bei gleichzeitiger Atmosphäre, Filigranität und Eingängigkeit geht nicht. Und für diese Qualität gibt es auch bei der strengen Blutkammer keinen anderen Ausweg mehr als die Höchtspunktzahl.
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