Tief verwurzelt in anderen Welten...
Interview mit Nechochwen
Black Metal / Folk aus USA - West Virginia
Black Metal / Folk aus USA - West Virginia
Wie ihr dem Review vielleicht entnommen habt, wird mir NECHOCHWENs zweites Album „Azimuths To The Otherworld“ als eine der faszinierendsten Scheiben des Jahres in Erinnerung bleiben. Einen großen Anteil daran hat – neben der Musik - das nun folgende Interview, welches vor etwa 2 Monaten als spontane Fragerunde begann und sich dank der unglaublich leidenschaftlichen und ausführlichen Natur von Aarons Antworten zu einem epischen Machwerk entwickelte, mit dessen Hilfe man dem Album in meinen Augen eine weitere Dimension abgewinnen kann. Von den Anfängen der Bandgeschichte bis zu den thematischen Hintergründen, vom historischen und gegenwärtigen Platz der Indianer bis hin zum praktischen Anliegen des Projektes NECHOCHWEN, erwartet euch hier ein ebenso lehrreicher wie atemloser Parforce-Ritt durch den Geist eines Musikers, der mir in dieser Form bisher auch noch nicht untergekommen ist – ich wünsche viel Spaß dabei.
Guten Abend aus Leipzig, Aaron, und zunächst vielen Dank für dein Interesse an einem Interview. Starten wir gleich mit der ersten Frage, die bei genauerer Betrachtung gar keine ist – stelle uns NECHOCHWEN doch zunächst einmal vor.
Aaron: Hallo Ralf, ich danke dir meinerseits für das Interesse an meiner Band. Der Same zu NECHOCHWEN wurde wie folgt gelegt: Als ich noch ein 14-jähriger Heavy Metal-Fan war, der eigentlich ständig auf der Gitarre spielte, begann ich mit der Lektüre von Büchern über den Pelzhandel in Nordamerika und dessen Rolle in der Geschichte der Shawnee. Über die Jahre gelang es mir auf diese Weise, meinen Stammbaum bis zu eben jenen Shawnee zurückzuverfolgen, oder genauer: Bis zu Einwohnern dieser Gegend, die später in den hier siedelnden Stämmen der Shawnee aufgegangen sind. Es gibt verschiedene Namen für diese Ureinwohner - Adena, Monongahela, Moundbuilders, etc. - aber im Grunde bezeichnen sie die gleiche Volksgruppe über einen Zeitraum von etwa 2000 Jahren.
Im Laufe meiner Entdeckungen lernte ich andere Menschen mit dem gleichen Erbe kennen, viele von ihnen aus Pennsylvania, und als ich mich später für eine Karriere als professioneller Musiker entschied, erwachte das Interesse für diese Kultur und ihre Geschichte langsam zu neuem Leben. Etwa zu dieser Zeit traten dann Dark Horizon Records an mich heran und fragten, ob ich nicht Lust hätte, ein Album mit Stücken für klassische Gitarre einzuspielen. Ich merkte beim Komponieren allerdings sehr schnell, dass ich nicht ausschließlich klassische Gitarrenmusik schrieb, sondern vielmehr mit Stimmungen experimentierte und dabei neben diversen Chants auch zunehmend Instrumente wie E-Bow, Keyboards, eine Slide-Gitarre und Drums einsetzte.
Am Ende dieser Experimente stand schließlich „Algonkian Mythos“ (das Debüt der Band, rs) und ich merkte, dass ich darauf die Art von Musik erschaffen hatte, die gleichermaßen meinen Wurzeln und dem mir intuitiv vertrautesten Teil meines Wesens entspricht. Mir geht es nicht um Politik, nicht ums Predigen oder sonstigen Aktivismus, sondern – abgesehen von der Erweiterung meines persönlichen Wissenshorizonts - schlicht um einen aktiven Beitrag zur Erhaltung von gewissen Traditionen und Sprachen. Dem entsprechend hat sich NECHOCHWEN schließlich zu einem verehrten und überaus wichtigen Bestandteil meines Lebens entwickelt – es ist ein Bindeglied zu meiner Vergangenheit und vielleicht eröffnet es dem ein oder anderen Hörer gerade dadurch eine neue Sicht auf die jeweils eigene Herkunft. Zumindest wäre das mein Wunsch und meine Hoffnung.
Das aktuelle Album heißt „Azimuths To The Otherworld“, wobei Azimuth offenbar ein für die Navigation bedeutsamer Begriff aus dem astronomischen Bereich ist. Hast du die Scheibe als eine Art Leuchtfeuer konzipiert, als Wegweiser in diese anderen Welten?
Deine Vermutungen sind soweit richtig. Speziell bei den Völkern der Adena und der Hopewell gibt es verschiedene traditionelle Handlungen, mit deren Hilfe man versucht, sich die nächste Welt – eine neue Stufe der Existenz – zu erschließen. Bei einigen dieser Rituale wurden natürliche Spiegel aus Glimmer benutzt, manche erforderten die Einnahme halluzinogener Pilze, wieder andere griffen auf das Verfertigen von Tierprothesen zurück, was von einem Geweih bis hin zum Einsetzen von Wolfskiefern alles sein konnte. Im letzteren Fall wurden die Frontzähne des Mediums entfernt und durch Kieferknochen eines Wolfs ersetzt – es gab also „echte“ Werwölfe! Auf „Azimuths...“ beschäftige ich mich mit solchen uralten Methoden, das Reich jenseits des Todes zu erreichen, und der Titel des Albums bezieht sich auf spezielle und sehr wichtige Vorkehrungen, um die Passage der Toten in die nächste Welt so sicher wie möglich zu gestalten.
Eine zentrale Rolle kommt dabei den astronomisch ausgerichteten Erd- und Hügelanlagen zu, die in Bezug zu Sternenkonstellationen und seltenen astronomischen Geschehnissen wie bestimmten Mondkonstellationen oder Sonnenwenden stehen – analog zu den aus Ägypten oder der Druidentradition bekannten Anlagen. Auf diese Weise wollte man dem Rauch, der bei der Einäscherung der Toten an diesen Plätzen entsteht, einen Weg zu den Konstellationen weisen, die man für besonders geeignete Übergangspunkte in die nächste Welt hielt. Das Azimuth ist dabei im Übrigen der Winkel zwischen dem Norden und der Position eines bestimmten Himmelsobjekts (wie beispielsweise dem Mond), jeweils relativ zum Horizont.
Hast du eine Vorstellung, was uns jenseits des Schleiers erwarten könnte?
Was genau erwartete die Toten in der nächsten Welt? Ich weiß es nicht, aber vielleicht ein Land, in dem wir erneut mit all jenen vereint sind, die wir in unserem Leben kennen- und liebengelernt haben. Ein Ort, wo man zugleich im Überfluss und jenseits der Beschränkungen des Fleisches weiter existieren kann.
Siehst du auf „Azimuths...“ Parallelen zum bisherigen Schaffen NECHOCHWENs?
In meinen Augen gibt es nur noch wenige Verbindungen zum ersten Album. Eine davon ist sicherlich Nilu-famu, ein heiliger Tabak zur rituellen Verwendung; eine weitere wäre Pilawah, ein alter Song der Shawnee. Ich bin mir nicht sicher, wie weit man dieses Lied zurückverfolgen kann und inwieweit meine Interpretation auf dem Album dem Original nahekommt – wahrscheinlich steht es jedoch in Bezug zu späten Moundbuilder-Kulturen wie den Monongahela.
Vom konzeptionellen Hintergrund abgesehen bietet „Azimuths...“ vor allem musikalisch einige Neuerungen. Du setzt beispielsweise zunehmend auf angeschwärzte Gitarrenakzente, wodurch die Scheibe zum einen eine subtile Grundspannung aufrecht erhält, während andererseits die Wirkung der fragilen Passagen spürbar erhöht wird. Wo siehst du persönlich die Unterschiede zum Vorgänger und was waren die wichtigsten Änderungen oder Vorgaben auf dem Weg zu „Azimuths...“?
Aus einem bestimmten Blickwinkel könnte man tatsächlich denken, dass „Algonkian Mythos“ ein komplett anderes Projekt ist, aber das ist so natürlich nicht ganz richtig. Zunächst muss man sagen, dass gerade indianische Musik oftmals von Improvisation lebt, was sich zum Beispiel an der Flötenmusik recht gut zeigen lässt. Und genau das ist ein Element, welches ich unbedingt bewahren wollte. Während meiner musikalischen Ausbildung habe ich neben improvisationslastigen Stilen wie Jazz allerdings überwiegend formale Grundlagen und Standards kennengelernt – von Strukturlehre bis hin zu vermeintlich verbindlichen musikalischen Konventionen. Wichtig war also paradoxerweise, dieses theoretische Wissen in meinem derzeitigen Schaffen zu vermeiden. Und warum? - Nun, ich würde sagen, dass Vorhersehbarkeit und musikalisches Sicherheitsdenken die Ursache dafür sind, dass ein Großteil der aktuellen Musik keine Seele in sich trägt, meinst du nicht?
„Azimuths...“ jedenfalls ist ein Album, das in dieser Form nicht bis ins kleinste Detail geplant war. Ich weiß nicht, inwieweit das Sinn macht, aber: Mein größter Ehrgeiz bestand darin, mir exakt diesen Ehrgeiz nicht anmerken zu lassen. All meine Anstrengungen liefen darauf hinaus, ein vollkommen unangestrengtes und ungezwungenes Album aufzunehmen, und irgendwann hatte ich das seltsame Gefühl, dass nicht ich mich für eine andere musikalische Ausrichtung entscheiden musste, sondern dass das neue Material selbst festlegte, wie genau es umgesetzt werden wollte.
All meine Ideen, die Noten und die unterschiedlichen Passagen in meinem Kopf, existierten zunächst nur in losen Zusammenhängen und als es schließlich ans Arrangieren ging, experimentierte ich unter anderem auch mit einem etwas metallischeren Rahmen. Über diesen Schritt bin ich rückblickend sehr froh, aber zum damaligen Zeitpunkt war es wirklich eine schwierige Entscheidung: Ich hatte beinahe Angst, dass ein härteres Album die organische Tradition zerstören könnte, die ich mit dem Debüt ins Leben gerufen hatte. Ich entschied mich schließlich für die Veränderung, weil es sich richtig anfühlte, weil es meinen und Pohonasins Fähigkeiten entsprach, und weil es zweifellos eine Bereicherung für das Album war. Wir mussten es einfach tun.
In diesem Entscheidungsprozess entdeckte ich für mich auch neue Ansätze, was das Songwriting betrifft: „At Night May I Roam“ beispielsweise ist zugleich zerbrechlich und heavy, obwohl es keinerlei verzerrte Gitarren enthält, und der Titelsong vertont endlich ein Gedicht von mir, welches mir schon lange am Herzen liegt. Ich bin zudem – zum ersten Mal! - wirklich glücklich mit den doomigeren Abschnitten des Albums, was mir in dieser Form bei der ersten Scheibe noch nicht gelungen war.
Dennoch sind traditionelle Instrumente auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil eurer Musik. Wer zeichnet dafür verantwortlich, woher rührt das Interesse und wie sieht diesbezüglich der Plan für zukünftige Alben aus?
Die Versuche am Piano stammen von mir, ebenso wie die Violine, die man in „Graves Of Grandeur“ hört – ich habe sie aus verschiedenen Teilen zusammengebaut, die ich in einem Musikshop gefunden habe, bei dem ich angestellt war. Dazu kommen zwei selbstgebaute Handtrommeln (eine aus Hirschhaut und Flaschenkürbis, die andere aus Hirschhaut und einem achteckigen Spezialrahmen) und ich denke, ich habe auch eine große Handtrommel benutzt, die von einem Trommelbauer der Navajo stammt. Dann hätten wir da noch eine selbstgebaute Rassel, die ich dem Sacred Music Studio vor einiger Zeit geschenkt habe, sowie eine traditionelle (auf E gestimmte) Flöte aus Zedernholz in „Hunting Among The Stars“. Am liebsten hätte ich noch eine Adlerknochenflöte verwendet, aber das musste ich leider bis zum kommenden Album verschieben. Bis dahin habe ich dann hoffentlich auch einen befreundeten Violinisten an Bord, der diesem Instrument professionell Leben einhaucht.
Was nun den Zweck betrifft: Die Verwendung traditioneller Instrumente ist für mich ein wichtiges Bindeglied zwischen den uralten Themen der Musik und deren moderner musikalischer Interpretation durch NECHOCHWEN - sie verleihen dem Ganzen eine spezielle Substanz. Und da ich mich derzeit sehr viel mit authentischer Vokalmusik von indianischen Völkern wie den Shawnee oder den Lenape beschäftige, wird der Einfluss aus dieser Richtung auf kommenden Scheiben wohl eher noch zunehmen.
Meiner Meinung nach ist „Azimuths...“ ein Album, das NECHOCHWEN zu einem absoluten Geheimtipp für Fans von EMPYRIUM oder auch NEGURA BUNGET macht. Kennst du diese Bands, haben sie eventuell sogar Einfluss auf dein Schaffen – inwieweit hast du Interesse an außeramerikanischen Entwicklungen deiner Nische?
Es ehrt mich das zu lesen, danke. Die beiden genannten Bands mag ich in der Tat, auch wenn ich sie bisher noch nicht kennenlernen durfte. Ich fühle mich dieser Art von Musik jedenfalls sehr verbunden und das Schaffen von Bands wie ULVER, TENHI, ROTTING CHRIST, MUSK OX oder WINTERFYLLETH hat durchaus inspirierenden Charakter für mich. Im gleichen Atemzug muss ich allerdings zugeben, dass ich internationalen Entwicklungen eher sporadisch folge, da ich das Ganze in jüngster Zeit nur noch selten als Fan betrachte – gute oder neue Bands entdeckt man grundsätzlich sehr spät, wenn man seine Zeit überwiegend den eigenen Interessen und der eigenen Musik widmet. Mit Blick auf prägende musikalische Einflüsse könnte man eventuell sogar sagen, dass ich irgendwo um 1992 oder 1993 hängengeblieben bin: Das war die für mich intensivste und fruchtbarste Zeit in Sachen Musik, und daran wird sich voraussichtlich auch nichts mehr ändern. Diese Ära atmet eine Mischung aus Nostalgie und Magie... ...aber ich schweife ab.
Und die Reaktionen auf „Azimuths...“ sind bisher...
...gut! Das Album ist in den meisten Reviews sehr gut weggekommen und auch das Feedback von anderen Musikern ist positiv. Seltsamerweise kann mir allerdings niemand so genau sagen, was ihm an der Scheibe denn nun besonders gut gefällt – die Antworten in dieser Hinsicht sind meist sehr vage. Aber das ist okay für mich.
In deiner ersten Mailantwort meintest du, dass das aktuelle Album für dich etwas sehr Spezielles wäre – kannst bzw. möchtest du das noch etwas ausführen?
„Azimuths...“ ist letzten Endes nicht einfach mein Tribut an die alten Völker des Ohio-Tals, es ist vielmehr ein musikalisches Logbuch meiner Studien dieser Stämme und vor Allem ein Symbol für die tiefe Liebe, die ich ihnen gegenüber empfinde. So viele Ureinwohner dieses Landstrichs sind zum jetzigen Zeitpunkt dem Vergessen anheim gefallen und das möchte ich heutigen Menschen ins Gedächtnis rufen, indem ich ihnen über ein musikalisches Werk die Gelegenheit biete, sich mit diesem Thema zu befassen, darin aufzugehen. Ich denke, dass ich damit Erfolg habe, aber die Arbeit geht weiter, denn das ist für mich weit mehr als nur ein cooles Hobby oder ein „irgendwie morbider und spleeniger“ Backdrop für ein Heavy Metal-Album – mir geht es letzten Endes darum, ein echtes Bewusstsein für die Kultur der amerikanischen Ureinwohner zu schaffen.
In jüngster Zeit interessiert sich ein Großteil der Bevölkerung nur für Dinge, die ein gewisses technologisches Potenzial in sich tragen – wenn es nicht high tech oder wenigstens neu ist, dann möchten sie nichts damit zu tun haben. Ich dagegen sage: Es ist ebenso wertvoll, die traditionelle Kunst des Feuermachens und Kochens zu erlernen. Es ist nützlich zu wissen, wie man in der Wildnis überlebt und es ist nicht verwerflich, unseren tierischen und pflanzlichen Geschwistern mit Respekt gegenüberzutreten. Vielleicht wird sich an den aktuellen Zuständen etwas ändern, aber diese Kenntnisse und Erkenntnisse sind uns in den vergangenen Generationen abhanden gekommen - sie wurden gegen blinden Fortschrittsglaube und damit einhergehende Abhängigkeiten eingetauscht, aus welchen wir uns vielleicht nie mehr befreien können.
„Azimuths...“ ist einerseits sicherlich ein Kind dieser modernen Zeit, aber es soll die Menschen vor allem daran erinnern, dass es andere Lebensweisen gab und ihnen das Gefühl der Fremdheit oder Distanz ein wenig nehmen. Die Atmosphäre baut dem entsprechend selten auf klischeehafte oder militante Züge, wie es im Metal heute eigentlich üblich zu sein scheint, sondern unterstreicht die Ehrfurcht, die Liebe und den tiefen Respekt gegenüber den verarbeiteten Themen. Es war mir wichtig, etwas Besonderes zu erschaffen, nicht nur für mich, sondern um die Neugier der Hörer anzuregen und ihnen darüber den Zugang zu meinem Anliegen zu ermöglichen. Insofern ist die besondere Bedeutung des Albums also zugleich Bedingung und Resultat des einzigartigen Themas.
Widmen wir uns zum Verschnaufen einer etwas allgemeineren Frage: Wann wurde dir klar, dass indianische Ureinwohner – und welche genau, denn Algonkin bezieht sich zunächst auf eine Sprachfamilie – das Leitmotiv deines musikalischen Schaffens sein würden? Gab es entscheidende Einzelerlebnisse, lebst du vielleicht in der Nähe eines Reservats?
Was Algonkin (eigtl.: Algonquin) betrifft, hast du zunächst Recht: Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Sprachen, deren unterschiedliche Dialekte unter anderem von den Shawnee, den Nanticoke, den Cree, Sauk und Fox gesprochen werden. Einige davon sind noch ziemlich lebendig, andere hingegen – wie die mir wichtige Sprache der Shawnee – trifft man kaum noch an. Dennoch kann man mit etwas Interesse überall Spuren dieser Kultur finden – von den künstlich angelegten Hügeln, Erdbauten und Einfriedungen, bis hin zu Flurnamen und den Bezeichnungen für unsere Siedlungen, Flüsse und Tiere. Eins dieser Wörter ist zum Beispiel Appalachia, der Name der Gegend, aus welcher ich komme.
Ich wollte diese Einflüsse musikalisch verarbeiten, sei ich 15 war und in einer Death Metal-Band namens DETHRONED spielte. Schon da gab es indianische Flötenpassagen und Texte, die sich mit den Kriege zwischen Shawnee und Mingo beschäftigten. Reservate gibt es in der unmittelbaren Umgebung allerdings nicht, und es ist auch selten, dass man jemanden mit mehr als einem Viertel indianischen Blutes trifft, der aus der Gegend kommt. Die meisten sind nur zu Besuch hier.
Andererseits haben die meisten Einheimischen zwangsläufig ein indianisches Erbe, denn zur Zeit der großen Umsiedlung von Ureinwohnern („Indian Removal“) in den 1830er Jahren hatte man nur wenige Optionen: Entweder man zog weiter in Richtung Westen oder man vermischte sich mit den einströmenden Siedlern europäischen Ursprungs, zum Beispiel durch Heirat. Nur einige wenige bildeten kleine, in sich geschlossene Gruppen und versuchten dort, sich der neuen Zeit anzupassen. Die meisten Leute mit indianischen Vorfahren sind entfernte Nachkommen der Shawnee, der Lenape (Delaware), der Cheerokee oder diverser Irokesenstämme.
Ich habe im Laufe der Zeit jedenfalls mehrere Pow-Wows besucht und an verschiedenen Reenactments historischer Schlachten teilgenommen, ich traf indianische Kunsthandwerker, besuchte schließlich sogar ein paar Reservate im Westen der USA - und wunderte mich zunehmend, dass niemand Interesse daran hatte, sich diesen Kulturen musikalisch zu nähern. Es machte keinen Sinn, gleichwohl das Thema eine gewisse Einarbeitung erfordert und lokale Traditionen im Metal der 1990er Jahre nicht unbedingt das nächste große Ding waren. Das änderte sich zum Glück mit AMORPHIS, der vielleicht einflussreichsten Band für mich: Ich war tief beeindruckt von der Leidenschaft, mit der die Finnen ihr Erbe erforschten und der finnischen Geschichte in diesem zeitlichen und musikalischen Umfeld mehrere Alben widmeten. In dieser Tradition sehe ich nun vielleicht auch meinen eigenen Versuch, die Algonkin-Sprachen zurück ins Bewusstsein der Menschen zu bringen, denn es sind die Sprachen unserer Vorfahren und damit auch deren Kultur. Dazu ist gerade der Shawnee-Dialekt sehr musikalisch, wodurch er sich als Bereicherung für meine musikalischen Unternehmungen natürlich anbietet.
Also würdest du sagen, dass NECHOCHWEN für dich nicht so sehr konzeptorientierte Folkmusik ist, sondern vielmehr Teil einer Suche nach spirituellen Wurzeln, nach Heimat ganz allgemein?
Absolut, genau das waren und sind die Beweggründe hinter meinem Schaffen! Den ersten Hinweis auf den Aspekt des Suchens liefert schon der Bandname, denn NECHOCHWEN ist ein Wort aus dem Lenape-Dialekt, das soviel wie „Einzelgänger“ oder „allein wandern“ bedeutet. Auf persönlicher Ebene erarbeite ich mir momentan einen Zugang zu meiner Herkunft, den ich in den letzten zehn Jahren aus verschiedenen (und schwer zu beschreibenden) Gründen verloren hatte – mittlerweile trägt die Suche nach meiner nicht zuletzt spirituellen Heimat also langsam wieder Früchte, die Bande zur Vergangenheit werden stärker.
Gleichzeitig ist NECHOCHWEN als musikalisches Projekt Ausdruck und Chronik einer Gemeinschaft, denn es begleitet eine Gruppe gleichgesinnter Menschen auf der Suche nach ihren Wurzeln, nach ihrem indianischen Erbe. Wir sind nicht unbedingt viele, aber es gibt uns, und die Musik ist mein Ruf an alle Interessierten, sich zu vereinen und diese Suche nach dem Ursprung gemeinsam anzugehen. Es mag durchaus sein, dass sich das für den ein oder anderen Hörer „nur“ nach konzeptorientierter Folkmusik anhört, aber für mich persönlich ist es sehr viel mehr: Diese Musik - die durch mich nur Gestalt erlangt - ist im Kern und unabhängig von dieser Gestalt ein Symbol, das Menschen mit einem Interesse an ihrer Vergangenheit verbinden soll.
Wird die oben erwähnte Sprache der Shawnee auf kommenden Veröffentlichungen eine Rolle spielen?
Ich lerne jeden Tag neue Wörter und Bedeutungen, und ich würde am liebsten so viel wie möglich davon in meiner Musik verarbeiten! Am schönsten wäre natürlich eine EP komplett in appalachischem Shawnee: Die meisten dieser Wörter haben mehrere Bedeutungen, müssen also sehr sorgsam verwendet werden. Dafür würde ich dann auch eine Änderung im bisher überwiegend instrumentalen Charakter NECHOCHWENs riskieren, denn die Sprachen der Algonkin-Familie sind wie erwähnt sehr musikalisch. Nachhören kann man das auch auf der ersten Scheibe, die ich dir sehr ans Herz lege - dort finden sich Shawnee-Fragmente in „Pilawah“ und „Talgayeeta“.
Der Komplex von Vergangenheit und Gegenwart lässt natürlich auch die Frage nach der aktuellen Situation und Stellung amerikanischer Ureinwohner aufkommen: Werden deren Traditionen noch gepflegt, oder haben der moderne amerikanische Lebensstil, die Notwendigkeit der ausnahmslosen Anpassung, alle Spuren assimiliert? Wie steht die amerikanische Öffentlichkeit zu den Indianern – und wie würdest du deine eigene Position beschreiben?
Ich habe soeben einen Werbespot für ein Kreditinstitut gesehen, welches ausschließlich indianische Betreiber hat – neben den fraglos vorhandenen Schwierigkeiten für Ureinwohner gibt es also durchaus Erfolgsgeschichten. Auch sonst scheinen Stammestraditionen wie die erwähnten Pow-Wows ebenso zu wachsen wie das generelle Interesse an indianischer Kultur, aber das könnte an meiner persönlichen Wahrnehmung liegen und ich würde das jetzt nicht zwangsläufig verallgemeinern wollen. Selbst ich bin bisher maximal in fünf oder sechs Reservaten gewesen und habe dem entsprechend nur einen relativ geringen Einblick in die Thematik – für den Großteil der Bevölkerung kann ich daher gar nicht sprechen.
Im lokalen Umfeld gibt es aber durchaus Interesse am indianischen Erbe, was vielleicht auch im historischen Kontext begründet liegt: Als Andrew Jackson 1830 den Indian Removal Act unterzeichnete, standen meine Vorfahren von den Shawnee und Lenape vor der Wahl, sich in Richtung Westen aufzumachen oder sich den weißen Siedlern und deren Kultur anzupassen. Meine Ahnen entschieden sich offensichtlich für Letzteres und blieben in West Virginia (damals Virginia), während ein Großteil der Clans den Weg nach Westen auf sich nahm. Ob dies die richtige Entscheidung war, wird nie geklärt werden, aber mit der Zeit vergaßen die Zurückgebliebenen ihre Traditionen und der letzte reinblütige Indianer starb lange vor meiner Geburt. Für Nicht-Indianer gab es keinen Grund sich damit zu beschäftigen, und in den meisten anderen Familien – wie meiner eigenen - wurde eventuell vorhandenes indianisches Erbe kaum beachtet, bis mich vor vor einigen Jahren dann eben die Neugier überkam.
Mittlerweile ist es nach meinem Empfinden so, dass sich mehr und mehr Menschen dieses Teils ihrer Identität bewusst werden, Wissen darüber sammeln und auch einen gewissen Stolz auf ihre Herkunft entwickeln. Natürlich sind die Traditionen und Praktiken mittlerweile leicht abgewandelt, aber sie kommen wieder und sind vor allem in Gebieten mit indianischer Besiedlung (wie beispielsweise Reservaten) überaus lebendig. Aufgrund meines vergleichsweise geringen Einblicks – ich lebe schließlich nicht dort – kann ich dir leider nichts Genaueres dazu sagen. Ich weiß auch nicht, inwieweit Rassismus ein Thema im Leben von Indianern ist – in meinem persönlichen Umfeld habe ich allerdings sowohl von Indianern als auch von Nicht-Indianern nur Unterstützung für mein Anliegen erfahren.
Spinnen wir den Faden noch ein wenig weiter: Für mich hat es bisweilen den Anschein, als ob Amerika vorrangig über seine moderneren Errungenschaften definiert werden möchte, über technische oder ökonomische Vorherrschaft beispielsweise. Die indigenen Bevölkerungsteile tauchen vor diesem Hintergrund eher als „schmutziges kleines Geheimnis“ auf, vielleicht auch weil die Pionier/Frontier/Wild West-Mythen eine wichtige Säule der moralischen und ideellen Integrität der Nation sind. Kann es sein, dass die Väter des melting pots nur sehr beschränktes Wissen über dessen Zutaten haben und das Ganze durch Hurra-Patriotismus und den Fluch des individuellen Erfolgsstrebens (oder -glaubens) notdürftig zusammenhalten?
Sagen wir so: Themen wie die Sklaverei oder die Ausrottung der Ureinwohner haben für die meisten Amerikaner sicherlich einen bitteren Beigeschmack. Mittlerweile ist es allerdings auch schwierig, dieses Land über Vorreiterrollen zu definieren, denn wenn man den Medien hierzulande Glauben schenkt, dann haben wir sowohl im technologischen als auch im ökonomischen Bereich den Anschluss verloren. Ich weiß nicht, inwieweit das stimmt, aber die öffentliche Meinung ist in dieser Hinsicht nicht unbedingt euphorisch.
Ich würde mich dennoch als stolzen Amerikaner bezeichnen, der individuellen Erfolg nicht so sehr als Fluch begreift, sondern vielmehr als Möglichkeit eine starke Familie aufzubauen und für andere Leute und deren Anliegen einzutreten. Gleiches gilt für meinen tief empfundenen Patriotismus: Ich liebe dieses Land und die Freiheiten, für welche es steht – Freiheiten, die uns in der jüngsten Zeit abhanden kommen, weil diejenigen an der Macht offenbar nicht viel von Freiheit und Wahlmöglichkeiten halten. Aber das wäre genug Stoff für ein weiteres Gespräch.
Was nun die Indianer als „schmutziges kleines Geheimnis“ betrifft, so würde ich sagen, dass der Grund für diese Nichtbeachtung weniger in irgendeiner Form von Hass liegt, sondern eher Ausdruck von Scham und Bedauern ist: Die meisten Gräueltaten liegen zwar schon sehr lange zurück, aber in manchen Dingen zeigt Amerika bis heute eine seltsame Mischung aus Ungerechtigkeit und mangelndem Respekt gegenüber den Indianern und allem, was ihnen heilig ist. Dennoch denke ich, dass der Mainstream und gerade auch die Jugend verstanden haben, wie wichtig die Sache der Indianer ist.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch, dass sich die Verfassung und die Bill Of Rights der USA direkt auf irokesische Traditionen berufen, was man unter anderem diesem Ausspruch unseres zweiten Präsidenten John Adams entnehmen kann:
“Die Regierungsform der alten Germanen, ebenso wie die der heutigen Indianer, hat die Trennung der drei Gewalten mit einer Präzision festgeschrieben, die jegliches Missverständnis ausschließt. Darin ist die demokratische Idee insofern angelegt, als dass alle wahre Herrschaftsgewalt vom Volke ausgeht und auf gemeinsamen Beschluss von König, Adel und Bürgertum umgesetzt wird.“
Für unsere Gründerväter hatten indianische Interessen vielleicht nicht unbedingt oberste Priorität, aber offenbar waren sie weise genug eine gute Sache zu erkennen, wenn sie sie sahen. Unsere aktuellen Probleme sind daher vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass wir uns von den Ideen und Idealen entfernen, auf denen diese Nation einst errichtet wurde – und viele davon wurden in direkter Linie aus den Traditionen der Ureinwohner übernommen.
Zu guter Letzt und mit allem Respekt noch ein Wort zum medial vermittelten USA-Bild: Unabhängig von geschichtlichen Belangen sollte man die USA nicht allein durch die Augen von Reuters, AP, BBC und CNN betrachten, denn deren Darstellung entspricht der durchschnittlichen amerikanischen Einstellung mitunter nur bedingt. Amerika wird in meinen Augen gleichermaßen missverstanden und unwürdig repräsentiert, was durch die internationale Berichterstattung noch gefördert wird: Im Fernsehen zeigt man regelmäßig die größten Idioten der Nation und erschafft so ein Bild, dass dem normalen Leben hier selten gerecht wird. Wir sind keinesfalls perfekt, aber als Gesellschaft sind wir meines Erachtens besser als das, was über uns verbreitet wird...
Gesellschaft ist ein schönes Stichwort. Es bringt mich zu einem interessanten Thema, welches ich mit deiner Musik verbinde: Dem Zusammenhang zwischen spirituellen Aspekten und traditionsbewusster Musik auf der einen Seite, der Moderne und dem Fortschritt auf der anderen Seite. Welchen Stellenwert misst die Gesellschaft allgemein – aber auch du persönlich – dem Phänomen der Entschleunigung bei, dem Runterkommen, der Selbstbetrachtung und -hinterfragung? Und weiter: Was fasziniert uns gerade in diesem Zusammenhang immer wieder an der Tradition, warum können wir einfach nicht davon lassen?
Für meine Begriffe sind menschliche Bedürfnisse wie zum Beispiel Entschleunigung, Selbstbetrachtung und Selbsthinterfragung in unserer Gesellschaft nicht nur unerwünscht, sie werden sogar öffentlich ins Lächerliche gezogen. Aus diesem Grund sind sie für die meisten Menschen dann auch kein Thema, was sich auf Gesundheit und das Leben an sich nicht unbedingt positiv auswirkt.
Traditionen wiederum sind nicht allein gut, weil sie alt sind, sondern vor allem weil sie authentisch sind. Sie sind das Gegenteil von Plastik und Trend, sie gewähren keine unmittelbare Befriedigung. Traditionen sind eine Mischung aus Logik und Effizienz, Respekt und Gesundheit, sie existieren ausschließlich zum Wohl eines Stammes oder einer Nation. In ihnen kann man erkennen, auf welch verschiedene Weise die Menschen im Laufe der Zeit ihr Leben führten, wie sie ihre Kinder Ehrgefühl und Stolz auf das Werk ihrer Hände lehrten, wie sie ihnen Respekt vor den sie umgebenden Lebewesen beibrachten. Dabei ist es egal, ob es darum geht, Feuer mit zwei Holzstäben zu machen, ein traditionelles Lied weiterzugeben, Spuren zu lesen, oder auch nur darum, dass man die Älteren freundlich und respektvoll behandelt – Traditionen sind im Grunde heilsame Wege, die Verbindungen der Welt zu erkennen.
Die Bequemlichkeiten der Moderne dagegen machen uns als Lebewesen leerer, sie erzeugen Inkompetenz in grundlegenden Techniken und entfremden uns von der Einsicht, dass wir eigentlich nur ein weiterer Bestandteil des Tierreichs sind. Ich denke mittlerweile, dass wir zu Tech-Zombies verkommen – aber wie wäre es, wenn man mit dem Sprechen warten würde, bis man etwas Wichtiges zu sagen hat, anstatt jederzeit und überall noch die kleinste Gemütsregung herauszuposaunen? Ich sage: Geht raus an die Luft, seid still und hört einfach nur auf die Eindrücke, die auf euch einströmen! Macht das überhaupt noch irgendwer? Wahrscheinlich finden die meisten Leute erst dann an spirituellen Fragen Gefallen, wenn sie so alt, kaputt oder krank sind, dass der Körper nur noch ein Gefängnis aus Fleisch ist – dann werden die alten Wege plötzlich interessant.
Damit wären wir dann auch schon bei der Dichotomie, die nach manchen Auffassungen unser Lebensumfeld prägt: Auf der einen Seite finden sich rationale Strukturen, funktionale Subsysteme, Distanz, zersplitterte Rollenbilder und daraus resultierende Entfremdung – auf der anderen Seite steht das Bedürfnis nach emotionaler Erfahrung und Teilhabe, nach fühlbarer Lebendigkeit, sowie die Sehnsucht nach körperlicher Unmittelbarkeit - von Yoga und Baummeditation bis „Fight Club“. Welche Rolle spielen die auf deinen Alben thematisierten Rituale in diesem Spannungsfeld, welche Praktiken und Totems empfindest du persönlich als Bereicherung und Hilfe beim Umgang mit diesen Extremen?
Was die Unmittelbarkeit und den direkten Kontakt betrifft, so glaube ich, dass der Mensch als Spezies schon immer eine Art Erlebnissucht in sich trug – wir sind geborene Thrill-Seeker. Bestes Beispiel dafür sind die zahllosen Kriege, die man als vielleicht extremste Form der körperlichen Nähe betrachten kann. Ich will nicht zynisch erscheinen, aber Menschen neigen dazu, sich zu langweilen, sie werden niedergeschlagen und suchen in der Folge etwas, dass die so empfundene Leere in ihrem Leben füllen kann und sie wieder aufbaut. Der Drang nach dieser Art von Erlebnissen ist meines Erachtens ein integraler Bestandteil der menschlichen Natur und wir werden ihm dem entsprechend auch immer wieder nachgeben. Ich persönlich würde mich nicht unbedingt als Draufgänger bezeichnen, aber auf mich üben zum Beispiel die Gefahren und Unwägbarkeiten der Natur einen Reiz aus, den ich zweifellos in dieser Ecke ansiedeln würde.
Etwas konkreter kann ich dir zum zweiten Teil der Frage Auskunft geben, denn ich bin ein stolzes Mitglied des kleinen Stammes der Loyalhanna Sewickley, einem Ableger der Shawnee in Pennsylvania. Unser erklärtes Ziel ist es, sehr alte Traditionen zu erforschen und zu erhalten, darunter sehr viele, die in Verbindung mit Tieren stehen (und daher vielleicht unter den Totemismus-Begriff fallen). Ich persönlich bin von der Wirksamkeit dieser Praktiken überzeugt und ich fühle mich ungleich lebendiger, wenn ich meiner Dankbarkeit durch heilige Zeremonien Ausdruck verleihe, um die Welt zu bereichern und vielleicht ein wenig besser zu machen. Wir nennen diese Treffen übrigens niyowemliito ilanitowin, denn es handelt sich dabei weniger um Rituale, sondern eher um heilige Zusammenkünfte zu Ehren von – und aus Dankbarkeit gegenüber – allen möglichen Dingen vom Hirsch bis hin zu Getreidepflanzen. Daneben gibt es Tanzveranstaltungen, Gebete und sogar ein Football-Event, aber unser Antrieb ist immer die Freude an allem Lebendigen, die einfach ein gutes Gefühl hinterlässt. In der Hektik des modernen, normalen Lebens vermisse ich dieses Gefühl natürlich manchmal, aber es existiert in meinem Kopf und in diesem Zusammenhang sind die beiden CDs von NECHOCHWEN für mich auch so etwas wie zusätzliche Danksagungszeremonien.
Einige meiner beeindruckendsten Erlebnisse drehten sich um Botschaften von Tieren. Das klingt vielleicht seltsam, aber im Grunde beinhalten diese Praktiken einen bestimmten Blick auf die Dinge um uns herum: Wenn man Tiere und Pflanzen als Einzelwesen betrachtet, als minderwertige und isolierte Elemente der Landschaft, dann wird man von ihnen unter Umständen ebenso behandelt und ignoriert. Wenn man sie wiederum mit dem Herzen betrachtet, sie als eine Art eigenen Staat akzeptiert, dann wird beispielsweise das jeweilige Totemtier zu einem Botschafter, der zwischen den Reichen vermittelt. Ich habe mir diese Ansicht zu eigen gemacht und seitdem ein wenig über die Art und Weise erfahren, wie diese anderen Reiche funktionieren – und auch darüber, wie sie uns in manchen Dingen überlegen sind.
Schließen wir das Ganze mit einer letzten Frage ab: Bitte erzähle doch ein wenig über die Masken, die ihr tragt. Auf euren Konzerten scheint ihr sie nicht dabei zu haben (das sieht für mich eher nach Country aus), also sind sie entweder ein neues Element – oder etwas Heiliges...
Die alten Moundbuilder-Stämme trugen Masken wahrscheinlich, um dadurch zu einem bestimmten Tier zu „werden“ oder zumindest mit dessen Reich zu kommunizieren. Auch im Mesingw-Tanz und der zugehörigen Tradition spielen Masken eine Rolle (die Linernotes von „Azimuths...“ beleuchten das etwas näher), doch unsere Masken sind anders. Ich habe sie während der Periode gekauft, in der ich viele Pow-Wows besuchte, sie sind handgeschnitzt und stehen für den Truthahn- oder Adlerclan (geflügelt), beziehungsweise den Wolfclan (die runde Tatze). Nun sind dies nicht notwendigerweise die Tiergeister, denen wir persönlich verbunden sind – ich kann das hier nicht näher erläutern – aber sie sind von enormer Bedeutung für die Stämme, mit denen sich „Azimuths...“ beschäftigt – und damit auch für NECHOCHWEN als Band.
Die Bilder, die du vielleicht gesehen hast, stammen ausnahmsweise nicht von einem Country-Konzert, sondern wahrscheinlich vom Heathen Crusade III. Dort waren Bands wie METSATÖLL, INQUISITION und MOONSORROW, und dazu gab ich ein Soloprogramm von NECHOCHWEN zum Besten. Ansonsten hatten wir noch ein paar Impressionen vom Mesquite Heat online, einer Show des öffentlichen Rundfunks in Texas, bei der eine ziemlich gute Tex-Mex-Band gespielt hat und wir mit FOREST OF THE SOUL eingeladen waren. Nichtsdestotrotz gibt es hier natürlich auch ein großes Country-Festival und man sollte ganz allgemein nicht überrascht sein, wenn auf den meisten Konzerten in der Gegend eine Mischung aus entfesselter Biervernichtung, Cowboystiefeln und den zugehörigen Hüten findet – das ist schließlich West Virginia und hier ist das eine ziemlich vertraute Kombination. Gut, REGURGITATE haben sich auch schon hierher verirrt, aber das ist eher die Ausnahme. Insgesamt sind wir wahrscheinlich ein ruhiges und bodenständiges Volk...
...bleiben wir noch kurz dabei. Als ich euer Album zum ersten Mal hörte, fragte ich mich unmittelbar, welcher Schlag Menschen wohl auf eure Konzerte kommt und wo ihr auftretet. Vielleicht ist es meiner Ignoranz geschuldet, aber während ich mir das potenzielle NECHOCHWEN-Publikum in Europa aufgrund der romantischen Tradition und der vielfältigen kulturellen Wurzeln einigermaßen vorstellen kann, habe ich offenbar keinen Schimmer vom amerikanischen Gegenpart. Wo spielt ihr, wer kommt zu den Gigs?
Zunächst spiele ich nicht allzu oft Konzerte, zumindest nicht mit NECHOCHWEN. Es ist eher so, dass ich gelegentlich ein paar NECHOCHWEN-Songs an dem College aufführe, in dem ich lehre. Der einzige echte Auftritt war der bereits erwähnte auf dem Heathen Crusade in Minnesota, zumal ich da auch noch alles alleine spielen konnte. Mittlerweile habe ich allerdings viele Stücke, für welche man vier oder mehr Leute benötigt, um sie live angemessen umzusetzen, was das Ganze ein wenig erschwert. Nicht zuletzt bin ich eher an Nachforschungen, am Schreiben und Aufnehmen von Musik interessiert.
Das zweite Problem hier sind geeignete Clubs, obwohl man mit etwas PR-Arbeit sicher eine ausreichende Anzahl von Besuchern motivieren könnte. Die Leute sind eigentlich stets auf der Suche nach musikalisch interessanten und thematisch ungewöhnlichen Projekten und diese Offenheit für Neues ist in meinen Augen eine große Stärke der Amerikaner, zumindest in Pittsburgh und Minneapolis. Auf der anderen Seite bin ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr als Gast auf einem Konzert gewesen und kann daher nur wenig dazu sagen. Den nervigsten Typen habe ich jedenfalls bei DARK TRANQUILLITY getroffen, die damals den langen Weg aus Schweden nach Pittsburgh gekommen sind: Er hat die Band über die komplette Länge des Konzerts mit Zwischenrufen unterbrochen. Das war allerdings wirklich ein Einzelfall.
Damit zurück in die Zukunft: Du hast letztlich einen Song zu einem Caspar David Friedrich-Sampler beigesteuert – wie kam es dazu, was hältst du von Friedrich, wo siehst du Verbindungen der vertretenen Bands untereinander?
Es handelt sich dabei um „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, eine Doppel-CD von Pest Productions, die meines Wissens durch Prophecy vertrieben wird. Mein Interesse wurde durch die Bemerkung eines anderen Künstlers geweckt, und nachdem ich das Bild gesehen hatte, war mir klar, dass es keinem, der es betrachtet, jemals wieder aus dem Kopf gehen würde.
Da seitens des Initiators eine gewisse künstlerische Freiheit gewährt und sogar gewünscht wurde, habe ich meinem Beitrag einen appalachischen Unterton verpasst. Mittlerweile fällt es mir schwer, den Song zu hören, denn er ist wirklich gut – aber eben auch unglaublich bedrückend. Paradoxerweise habe ich dadurch wahrscheinlich mein Ziel erreicht, denn in dem Stück geht es um einen Mann aus der Gegend, der zur Zeit der Großen Depression in extremer Armut lebt und versucht, sich und seine Kinder am Leben zu halten. Dieser Mann ist in gewisser Hinsicht dem Mann auf dem Bild ähnlich: Allein, mit Blick auf eine unermessliche Weite, die gewissermaßen ein Symbol für das Ausmaß seiner Angst, seiner Einsamkeit und seiner Trauer über das Schicksal seiner Frau ist. Der Song selbst ist das erste Stück von NECHOCHWEN, bei dem ich mit verzerrten Gitarren, Schlagzeug und Bass experimentiert habe, damals noch als einmaliges Experiment. Wie wir alle wissen, habe ich diesen Weg dann auf „Azimuths...“ weiter verfolgt.
Was nun Caspar David Friedrich betrifft, so mag ich wirklich alles, was ich bisher von seinem Werk gesehen habe. Es war allerdings eine seltsame Vorstellung, dass sich ausgerechnet eine Gruppe von, sagen wir: Avantgardemusikern, trifft, um einen traditionellen Künstler zu ehren, der vor 200 Jahren gelebt hat. Das Gute daran: Ich habe neben den geschätzten AGALLOCH, OCTOBER FALLS und MUSK OX auch einige Bands entdeckt, die mir bisher nicht bekannt waren. Überhaupt gefallen mir die Zusammenstellung des Samplers und das Pest-Roster ziemlich gut – Verbindungen gibt es notgedrungen natürlich eher zu den nordamerikanischen Vertretern.
Sprechen wir ein wenig über dein Label Bindrune. Die dort vertretenen Bands muten zuweilen etwas obskur an und NECHOCHWEN könnte man vielleicht noch als einen der zugänglicheren Vertreter bezeichnen. Wie bist du bei Bindrune gelandet, gibt es eine Philosophie hinter der Bandauswahl? Und welche Bands könnten jenen gefallen, die NECHOCHWEN mögen?
Mit Bindrune bin ich erstmals auf dem dritten Heathen Crusade in Berührung gekommen. Das Merch-Zelt des Labels stand direkt neben der Bühne, auf welcher ich spielte, also drückte ich Marty Rytkonen am Ende des Festivals unser Debüt in die Hand und meinte „Danke, dass du das ganze Wochenende zugehört hast.“ Offenbar hat er die Scheibe im folgenden Winter dann auch ausgiebig gehört, denn als ich das nächste Mal von ihm hörte, bot er mir einen großartigen Deal an.
Das Label an sich bietet seinen Künstlern sehr viel Rückhalt, es herrscht eine offene Atmosphäre und wir arbeiten einfach sehr gut zusammen. Ich bin wirklich glücklich.
Dazu kommt mein Eindruck, dass Marty ähnliche Dinge bewahren möchte wie ich: Nicht der Profit steht im Vordergrund, sondern die Förderung von Musik und Künstlern, die eng mit der Natur verbunden sind. Aus dieser Perspektive passt dann auch NECHOCHWEN ins Roster, obwohl sich auf Bindrune viel um obskure, ungewöhnliche Black Metal-Projekte dreht. CELESTIIAL und BLOOD OF THE BLACK OWL arbeiten übrigens ebenfalls mit indigenem Hintergrund und versuchen ein Bewusstsein für Natur zu erschaffen, OBSEQUIAE könnten aufgrund ihrer großartigen Gitarrenharmonien vielleicht interessant für Freunde von „Azimuths...“ sein.
Wenn man sich deine Myspace-Seite anschaut, dann könnte man dich angesichts der vielen Projekte für ein Arbeitstier halten. Welche davon sind aktuell aktiv und womit beschäftigst du dich jeweils?
Momentan sieht es so aus: Vor kurzem ist eine Split namens „Unholy Conception“ erschienen, zu welcher ich die Seite von THE INFIRMARY beigesteuert habe. Die zweite Band der Split sind THE REPRISAL – für deren Beitrag habe ich die Sologitarren eingespielt. Das Material für THE INFIRMARY – im Übrigen mein erster Versuch als Death Metal-Sänger - brodelt schon eine ganze Weile in mir, aber es erst jetzt haben die Umstände gepasst. Musikalisch handelt es sich um Death Metal zwischen DECAPITATED, AT THE GATES und INCANTATION, lyrisch ging es mir schlicht darum, abgefahrene Geschichten zu erzählen.
Aktuell arbeite ich am neuen Album von FOREST OF THE SOUL, welches voraussichtlich Ende des Jahres erscheinen wird. Es wird ein Mix aus neuen Stücken und ein paar älteren Songs, die wir komplett überarbeitet haben. Musikalisch handelt es sich bei diesem Projekt um akustische Gitarrenmusik, es gibt also reichlich Folk und Gezupftes. Auf der zweiten Scheibe haben wir uns ein wenig von den klassischen Sachen entfernt, und stehen nun mit einem Bein im Singer/Songwriter-Genre. Das Album wird übrigens eine Menge Bonustracks enthalten, denn wir haben altes FOREST-Material und ein paar ANGELRUST-Sachen neu eingespielt, um das Paket abzurunden.
Wo wir gerade bei ANGELRUST sind: Deren letzte Scheibe „The Nightmare Unfolds“ wurde vor kurzem von Stronghold Records neu aufgelegt. Meiner Meinung nach eine exzellente Scheibe und auf jeden Fall die beste, die wir als ANGELRUST veröffentlicht haben.
Mein letztes aktuelles Projekt ist schließlich ein weiteres Album mit klassischer Gitarrenmusik, mit welchem ich Geld für die Krebsforschung auftreiben möchte. Meine Mutter ist letztes Jahr an Krebs erkrankt und ich habe mich absolut hilflos gefühlt – dieses Projekt ist die Waffe meiner Wahl im Kampf gegen diese schreckliche Krankheit.
Dafür die besten Wünsche von meiner Seite! Lass uns abschließend einen Blick in die Zukunft wagen: Was wird dich in den kommenden Monaten beschäftigen, und wird man NECHOCHWEN jemals außerhalb der Staaten auf der Bühne sehen?
Abgesehen vom erwähnten FOREST OF THE SOUL-Album, für welches ich noch ein paar Gastmusiker begeistern möchte, stehen demnächst Backing Vocals für eine Death Metal-Band namens ENTROPY im Kalender. Für NECHOCHWEN existieren bereits ein paar Fragmente, allerdings entstehen die Alben meist in einem Rutsch kurz vor den Aufnahmen. Nach FOREST OF THE SOULS hat neues Material für NECHOCHWEN aber auf jeden Fall oberste Priorität.
Abseits der Musik ist mein größtes Projekt sicherlich die Transkription alter Shawnee-Songs und anderer Stücke aus der Algonkin-Familie. Ich habe keine Ahnung, ob diese Lieder aktuell überhaupt noch jemand singt und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie seit Ewigkeiten überwintert haben – aber vielleicht ist die Zeit gekommen, sie erneut zu lernen und zu singen. Vielleicht werden wir sie eines Tages als Stamm aufnehmen und sie so für die Nachwelt bewahren.
Und damit zum Thema Konzerte in Übersee: Für mich wäre es natürlich eine unglaubliche Ehre, wenn es zu einem derartigen Konzert kommen würde! Es wäre zudem eine gute Motivation, sich endlich nach einer Liveband umzusehen, mit der man die aktuellen Songs auch angemessen umsetzen kann. Dazu kommt, dass ich Vorfahren aus der Schweiz, aus Deutschland und Irland habe – die Heimat der Familie meines Vaters zu sehen ist daher ein Traum von mir, den ich hoffentlich verwirklichen kann, bevor ich alt bin. Und dann würde ich natürlich gern nach Japan und nach Australien... ...aber sagen wir so: NECHOCHWEN-Shows, in Amerika und international, werden sicherlich nicht heute oder morgen stattfinden, aber sie sind ein Ziel, das ich nicht aus den Augen verliere.
Ein schöner Ausblick und von meiner Seite auch der Schlusspunkt dieses Interviews. Aaron, herzlichen Dank für dieses Monster, für deine Geduld und für die Möglichkeit, einen ausführlichen Blick auf NECHOCHWEN und deine persönlichen Gedanken werfen zu dürfen. Ich wünsche dir das Beste und hoffe, wir lesen dann zur nächsten Scheibe erneut voneinander – die letzten Worte sollen traditionell die deinen sein:
Ich danke dir für die Gelegenheit, NECHOCHWEN derart umfassend vorzustellen! Die Fragen waren äußerst interessant, zumal ich in manchen Dingen wirklich überlegen musste, wie genau ich meine Gedanken und Einstellungen denn nun in Worte fassen kann, wie ich mich selbst und meinen Platz im größeren Ganzen sehe. Ich hoffe, dass wir das in Zukunft fortsetzen können – entweder in Europa oder hier bei uns in den Staaten.
Die besten Wünsche, Aaron.
Guten Abend aus Leipzig, Aaron, und zunächst vielen Dank für dein Interesse an einem Interview. Starten wir gleich mit der ersten Frage, die bei genauerer Betrachtung gar keine ist – stelle uns NECHOCHWEN doch zunächst einmal vor.
Aaron: Hallo Ralf, ich danke dir meinerseits für das Interesse an meiner Band. Der Same zu NECHOCHWEN wurde wie folgt gelegt: Als ich noch ein 14-jähriger Heavy Metal-Fan war, der eigentlich ständig auf der Gitarre spielte, begann ich mit der Lektüre von Büchern über den Pelzhandel in Nordamerika und dessen Rolle in der Geschichte der Shawnee. Über die Jahre gelang es mir auf diese Weise, meinen Stammbaum bis zu eben jenen Shawnee zurückzuverfolgen, oder genauer: Bis zu Einwohnern dieser Gegend, die später in den hier siedelnden Stämmen der Shawnee aufgegangen sind. Es gibt verschiedene Namen für diese Ureinwohner - Adena, Monongahela, Moundbuilders, etc. - aber im Grunde bezeichnen sie die gleiche Volksgruppe über einen Zeitraum von etwa 2000 Jahren.
Am Ende dieser Experimente stand schließlich „Algonkian Mythos“ (das Debüt der Band, rs) und ich merkte, dass ich darauf die Art von Musik erschaffen hatte, die gleichermaßen meinen Wurzeln und dem mir intuitiv vertrautesten Teil meines Wesens entspricht. Mir geht es nicht um Politik, nicht ums Predigen oder sonstigen Aktivismus, sondern – abgesehen von der Erweiterung meines persönlichen Wissenshorizonts - schlicht um einen aktiven Beitrag zur Erhaltung von gewissen Traditionen und Sprachen. Dem entsprechend hat sich NECHOCHWEN schließlich zu einem verehrten und überaus wichtigen Bestandteil meines Lebens entwickelt – es ist ein Bindeglied zu meiner Vergangenheit und vielleicht eröffnet es dem ein oder anderen Hörer gerade dadurch eine neue Sicht auf die jeweils eigene Herkunft. Zumindest wäre das mein Wunsch und meine Hoffnung.
Das aktuelle Album heißt „Azimuths To The Otherworld“, wobei Azimuth offenbar ein für die Navigation bedeutsamer Begriff aus dem astronomischen Bereich ist. Hast du die Scheibe als eine Art Leuchtfeuer konzipiert, als Wegweiser in diese anderen Welten?
Deine Vermutungen sind soweit richtig. Speziell bei den Völkern der Adena und der Hopewell gibt es verschiedene traditionelle Handlungen, mit deren Hilfe man versucht, sich die nächste Welt – eine neue Stufe der Existenz – zu erschließen. Bei einigen dieser Rituale wurden natürliche Spiegel aus Glimmer benutzt, manche erforderten die Einnahme halluzinogener Pilze, wieder andere griffen auf das Verfertigen von Tierprothesen zurück, was von einem Geweih bis hin zum Einsetzen von Wolfskiefern alles sein konnte. Im letzteren Fall wurden die Frontzähne des Mediums entfernt und durch Kieferknochen eines Wolfs ersetzt – es gab also „echte“ Werwölfe! Auf „Azimuths...“ beschäftige ich mich mit solchen uralten Methoden, das Reich jenseits des Todes zu erreichen, und der Titel des Albums bezieht sich auf spezielle und sehr wichtige Vorkehrungen, um die Passage der Toten in die nächste Welt so sicher wie möglich zu gestalten.
Eine zentrale Rolle kommt dabei den astronomisch ausgerichteten Erd- und Hügelanlagen zu, die in Bezug zu Sternenkonstellationen und seltenen astronomischen Geschehnissen wie bestimmten Mondkonstellationen oder Sonnenwenden stehen – analog zu den aus Ägypten oder der Druidentradition bekannten Anlagen. Auf diese Weise wollte man dem Rauch, der bei der Einäscherung der Toten an diesen Plätzen entsteht, einen Weg zu den Konstellationen weisen, die man für besonders geeignete Übergangspunkte in die nächste Welt hielt. Das Azimuth ist dabei im Übrigen der Winkel zwischen dem Norden und der Position eines bestimmten Himmelsobjekts (wie beispielsweise dem Mond), jeweils relativ zum Horizont.
Hast du eine Vorstellung, was uns jenseits des Schleiers erwarten könnte?
Was genau erwartete die Toten in der nächsten Welt? Ich weiß es nicht, aber vielleicht ein Land, in dem wir erneut mit all jenen vereint sind, die wir in unserem Leben kennen- und liebengelernt haben. Ein Ort, wo man zugleich im Überfluss und jenseits der Beschränkungen des Fleisches weiter existieren kann.
Siehst du auf „Azimuths...“ Parallelen zum bisherigen Schaffen NECHOCHWENs?
In meinen Augen gibt es nur noch wenige Verbindungen zum ersten Album. Eine davon ist sicherlich Nilu-famu, ein heiliger Tabak zur rituellen Verwendung; eine weitere wäre Pilawah, ein alter Song der Shawnee. Ich bin mir nicht sicher, wie weit man dieses Lied zurückverfolgen kann und inwieweit meine Interpretation auf dem Album dem Original nahekommt – wahrscheinlich steht es jedoch in Bezug zu späten Moundbuilder-Kulturen wie den Monongahela.
Vom konzeptionellen Hintergrund abgesehen bietet „Azimuths...“ vor allem musikalisch einige Neuerungen. Du setzt beispielsweise zunehmend auf angeschwärzte Gitarrenakzente, wodurch die Scheibe zum einen eine subtile Grundspannung aufrecht erhält, während andererseits die Wirkung der fragilen Passagen spürbar erhöht wird. Wo siehst du persönlich die Unterschiede zum Vorgänger und was waren die wichtigsten Änderungen oder Vorgaben auf dem Weg zu „Azimuths...“?
Aus einem bestimmten Blickwinkel könnte man tatsächlich denken, dass „Algonkian Mythos“ ein komplett anderes Projekt ist, aber das ist so natürlich nicht ganz richtig. Zunächst muss man sagen, dass gerade indianische Musik oftmals von Improvisation lebt, was sich zum Beispiel an der Flötenmusik recht gut zeigen lässt. Und genau das ist ein Element, welches ich unbedingt bewahren wollte. Während meiner musikalischen Ausbildung habe ich neben improvisationslastigen Stilen wie Jazz allerdings überwiegend formale Grundlagen und Standards kennengelernt – von Strukturlehre bis hin zu vermeintlich verbindlichen musikalischen Konventionen. Wichtig war also paradoxerweise, dieses theoretische Wissen in meinem derzeitigen Schaffen zu vermeiden. Und warum? - Nun, ich würde sagen, dass Vorhersehbarkeit und musikalisches Sicherheitsdenken die Ursache dafür sind, dass ein Großteil der aktuellen Musik keine Seele in sich trägt, meinst du nicht?
„Azimuths...“ jedenfalls ist ein Album, das in dieser Form nicht bis ins kleinste Detail geplant war. Ich weiß nicht, inwieweit das Sinn macht, aber: Mein größter Ehrgeiz bestand darin, mir exakt diesen Ehrgeiz nicht anmerken zu lassen. All meine Anstrengungen liefen darauf hinaus, ein vollkommen unangestrengtes und ungezwungenes Album aufzunehmen, und irgendwann hatte ich das seltsame Gefühl, dass nicht ich mich für eine andere musikalische Ausrichtung entscheiden musste, sondern dass das neue Material selbst festlegte, wie genau es umgesetzt werden wollte.
All meine Ideen, die Noten und die unterschiedlichen Passagen in meinem Kopf, existierten zunächst nur in losen Zusammenhängen und als es schließlich ans Arrangieren ging, experimentierte ich unter anderem auch mit einem etwas metallischeren Rahmen. Über diesen Schritt bin ich rückblickend sehr froh, aber zum damaligen Zeitpunkt war es wirklich eine schwierige Entscheidung: Ich hatte beinahe Angst, dass ein härteres Album die organische Tradition zerstören könnte, die ich mit dem Debüt ins Leben gerufen hatte. Ich entschied mich schließlich für die Veränderung, weil es sich richtig anfühlte, weil es meinen und Pohonasins Fähigkeiten entsprach, und weil es zweifellos eine Bereicherung für das Album war. Wir mussten es einfach tun.
In diesem Entscheidungsprozess entdeckte ich für mich auch neue Ansätze, was das Songwriting betrifft: „At Night May I Roam“ beispielsweise ist zugleich zerbrechlich und heavy, obwohl es keinerlei verzerrte Gitarren enthält, und der Titelsong vertont endlich ein Gedicht von mir, welches mir schon lange am Herzen liegt. Ich bin zudem – zum ersten Mal! - wirklich glücklich mit den doomigeren Abschnitten des Albums, was mir in dieser Form bei der ersten Scheibe noch nicht gelungen war.
Dennoch sind traditionelle Instrumente auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil eurer Musik. Wer zeichnet dafür verantwortlich, woher rührt das Interesse und wie sieht diesbezüglich der Plan für zukünftige Alben aus?
Die Versuche am Piano stammen von mir, ebenso wie die Violine, die man in „Graves Of Grandeur“ hört – ich habe sie aus verschiedenen Teilen zusammengebaut, die ich in einem Musikshop gefunden habe, bei dem ich angestellt war. Dazu kommen zwei selbstgebaute Handtrommeln (eine aus Hirschhaut und Flaschenkürbis, die andere aus Hirschhaut und einem achteckigen Spezialrahmen) und ich denke, ich habe auch eine große Handtrommel benutzt, die von einem Trommelbauer der Navajo stammt. Dann hätten wir da noch eine selbstgebaute Rassel, die ich dem Sacred Music Studio vor einiger Zeit geschenkt habe, sowie eine traditionelle (auf E gestimmte) Flöte aus Zedernholz in „Hunting Among The Stars“. Am liebsten hätte ich noch eine Adlerknochenflöte verwendet, aber das musste ich leider bis zum kommenden Album verschieben. Bis dahin habe ich dann hoffentlich auch einen befreundeten Violinisten an Bord, der diesem Instrument professionell Leben einhaucht.
Was nun den Zweck betrifft: Die Verwendung traditioneller Instrumente ist für mich ein wichtiges Bindeglied zwischen den uralten Themen der Musik und deren moderner musikalischer Interpretation durch NECHOCHWEN - sie verleihen dem Ganzen eine spezielle Substanz. Und da ich mich derzeit sehr viel mit authentischer Vokalmusik von indianischen Völkern wie den Shawnee oder den Lenape beschäftige, wird der Einfluss aus dieser Richtung auf kommenden Scheiben wohl eher noch zunehmen.
Meiner Meinung nach ist „Azimuths...“ ein Album, das NECHOCHWEN zu einem absoluten Geheimtipp für Fans von EMPYRIUM oder auch NEGURA BUNGET macht. Kennst du diese Bands, haben sie eventuell sogar Einfluss auf dein Schaffen – inwieweit hast du Interesse an außeramerikanischen Entwicklungen deiner Nische?
Und die Reaktionen auf „Azimuths...“ sind bisher...
...gut! Das Album ist in den meisten Reviews sehr gut weggekommen und auch das Feedback von anderen Musikern ist positiv. Seltsamerweise kann mir allerdings niemand so genau sagen, was ihm an der Scheibe denn nun besonders gut gefällt – die Antworten in dieser Hinsicht sind meist sehr vage. Aber das ist okay für mich.
In deiner ersten Mailantwort meintest du, dass das aktuelle Album für dich etwas sehr Spezielles wäre – kannst bzw. möchtest du das noch etwas ausführen?
„Azimuths...“ ist letzten Endes nicht einfach mein Tribut an die alten Völker des Ohio-Tals, es ist vielmehr ein musikalisches Logbuch meiner Studien dieser Stämme und vor Allem ein Symbol für die tiefe Liebe, die ich ihnen gegenüber empfinde. So viele Ureinwohner dieses Landstrichs sind zum jetzigen Zeitpunkt dem Vergessen anheim gefallen und das möchte ich heutigen Menschen ins Gedächtnis rufen, indem ich ihnen über ein musikalisches Werk die Gelegenheit biete, sich mit diesem Thema zu befassen, darin aufzugehen. Ich denke, dass ich damit Erfolg habe, aber die Arbeit geht weiter, denn das ist für mich weit mehr als nur ein cooles Hobby oder ein „irgendwie morbider und spleeniger“ Backdrop für ein Heavy Metal-Album – mir geht es letzten Endes darum, ein echtes Bewusstsein für die Kultur der amerikanischen Ureinwohner zu schaffen.
In jüngster Zeit interessiert sich ein Großteil der Bevölkerung nur für Dinge, die ein gewisses technologisches Potenzial in sich tragen – wenn es nicht high tech oder wenigstens neu ist, dann möchten sie nichts damit zu tun haben. Ich dagegen sage: Es ist ebenso wertvoll, die traditionelle Kunst des Feuermachens und Kochens zu erlernen. Es ist nützlich zu wissen, wie man in der Wildnis überlebt und es ist nicht verwerflich, unseren tierischen und pflanzlichen Geschwistern mit Respekt gegenüberzutreten. Vielleicht wird sich an den aktuellen Zuständen etwas ändern, aber diese Kenntnisse und Erkenntnisse sind uns in den vergangenen Generationen abhanden gekommen - sie wurden gegen blinden Fortschrittsglaube und damit einhergehende Abhängigkeiten eingetauscht, aus welchen wir uns vielleicht nie mehr befreien können.
„Azimuths...“ ist einerseits sicherlich ein Kind dieser modernen Zeit, aber es soll die Menschen vor allem daran erinnern, dass es andere Lebensweisen gab und ihnen das Gefühl der Fremdheit oder Distanz ein wenig nehmen. Die Atmosphäre baut dem entsprechend selten auf klischeehafte oder militante Züge, wie es im Metal heute eigentlich üblich zu sein scheint, sondern unterstreicht die Ehrfurcht, die Liebe und den tiefen Respekt gegenüber den verarbeiteten Themen. Es war mir wichtig, etwas Besonderes zu erschaffen, nicht nur für mich, sondern um die Neugier der Hörer anzuregen und ihnen darüber den Zugang zu meinem Anliegen zu ermöglichen. Insofern ist die besondere Bedeutung des Albums also zugleich Bedingung und Resultat des einzigartigen Themas.
Widmen wir uns zum Verschnaufen einer etwas allgemeineren Frage: Wann wurde dir klar, dass indianische Ureinwohner – und welche genau, denn Algonkin bezieht sich zunächst auf eine Sprachfamilie – das Leitmotiv deines musikalischen Schaffens sein würden? Gab es entscheidende Einzelerlebnisse, lebst du vielleicht in der Nähe eines Reservats?
Was Algonkin (eigtl.: Algonquin) betrifft, hast du zunächst Recht: Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Sprachen, deren unterschiedliche Dialekte unter anderem von den Shawnee, den Nanticoke, den Cree, Sauk und Fox gesprochen werden. Einige davon sind noch ziemlich lebendig, andere hingegen – wie die mir wichtige Sprache der Shawnee – trifft man kaum noch an. Dennoch kann man mit etwas Interesse überall Spuren dieser Kultur finden – von den künstlich angelegten Hügeln, Erdbauten und Einfriedungen, bis hin zu Flurnamen und den Bezeichnungen für unsere Siedlungen, Flüsse und Tiere. Eins dieser Wörter ist zum Beispiel Appalachia, der Name der Gegend, aus welcher ich komme.
Ich wollte diese Einflüsse musikalisch verarbeiten, sei ich 15 war und in einer Death Metal-Band namens DETHRONED spielte. Schon da gab es indianische Flötenpassagen und Texte, die sich mit den Kriege zwischen Shawnee und Mingo beschäftigten. Reservate gibt es in der unmittelbaren Umgebung allerdings nicht, und es ist auch selten, dass man jemanden mit mehr als einem Viertel indianischen Blutes trifft, der aus der Gegend kommt. Die meisten sind nur zu Besuch hier.
Andererseits haben die meisten Einheimischen zwangsläufig ein indianisches Erbe, denn zur Zeit der großen Umsiedlung von Ureinwohnern („Indian Removal“) in den 1830er Jahren hatte man nur wenige Optionen: Entweder man zog weiter in Richtung Westen oder man vermischte sich mit den einströmenden Siedlern europäischen Ursprungs, zum Beispiel durch Heirat. Nur einige wenige bildeten kleine, in sich geschlossene Gruppen und versuchten dort, sich der neuen Zeit anzupassen. Die meisten Leute mit indianischen Vorfahren sind entfernte Nachkommen der Shawnee, der Lenape (Delaware), der Cheerokee oder diverser Irokesenstämme.
Ich habe im Laufe der Zeit jedenfalls mehrere Pow-Wows besucht und an verschiedenen Reenactments historischer Schlachten teilgenommen, ich traf indianische Kunsthandwerker, besuchte schließlich sogar ein paar Reservate im Westen der USA - und wunderte mich zunehmend, dass niemand Interesse daran hatte, sich diesen Kulturen musikalisch zu nähern. Es machte keinen Sinn, gleichwohl das Thema eine gewisse Einarbeitung erfordert und lokale Traditionen im Metal der 1990er Jahre nicht unbedingt das nächste große Ding waren. Das änderte sich zum Glück mit AMORPHIS, der vielleicht einflussreichsten Band für mich: Ich war tief beeindruckt von der Leidenschaft, mit der die Finnen ihr Erbe erforschten und der finnischen Geschichte in diesem zeitlichen und musikalischen Umfeld mehrere Alben widmeten. In dieser Tradition sehe ich nun vielleicht auch meinen eigenen Versuch, die Algonkin-Sprachen zurück ins Bewusstsein der Menschen zu bringen, denn es sind die Sprachen unserer Vorfahren und damit auch deren Kultur. Dazu ist gerade der Shawnee-Dialekt sehr musikalisch, wodurch er sich als Bereicherung für meine musikalischen Unternehmungen natürlich anbietet.
Also würdest du sagen, dass NECHOCHWEN für dich nicht so sehr konzeptorientierte Folkmusik ist, sondern vielmehr Teil einer Suche nach spirituellen Wurzeln, nach Heimat ganz allgemein?
Absolut, genau das waren und sind die Beweggründe hinter meinem Schaffen! Den ersten Hinweis auf den Aspekt des Suchens liefert schon der Bandname, denn NECHOCHWEN ist ein Wort aus dem Lenape-Dialekt, das soviel wie „Einzelgänger“ oder „allein wandern“ bedeutet. Auf persönlicher Ebene erarbeite ich mir momentan einen Zugang zu meiner Herkunft, den ich in den letzten zehn Jahren aus verschiedenen (und schwer zu beschreibenden) Gründen verloren hatte – mittlerweile trägt die Suche nach meiner nicht zuletzt spirituellen Heimat also langsam wieder Früchte, die Bande zur Vergangenheit werden stärker.
Gleichzeitig ist NECHOCHWEN als musikalisches Projekt Ausdruck und Chronik einer Gemeinschaft, denn es begleitet eine Gruppe gleichgesinnter Menschen auf der Suche nach ihren Wurzeln, nach ihrem indianischen Erbe. Wir sind nicht unbedingt viele, aber es gibt uns, und die Musik ist mein Ruf an alle Interessierten, sich zu vereinen und diese Suche nach dem Ursprung gemeinsam anzugehen. Es mag durchaus sein, dass sich das für den ein oder anderen Hörer „nur“ nach konzeptorientierter Folkmusik anhört, aber für mich persönlich ist es sehr viel mehr: Diese Musik - die durch mich nur Gestalt erlangt - ist im Kern und unabhängig von dieser Gestalt ein Symbol, das Menschen mit einem Interesse an ihrer Vergangenheit verbinden soll.
Wird die oben erwähnte Sprache der Shawnee auf kommenden Veröffentlichungen eine Rolle spielen?
Ich lerne jeden Tag neue Wörter und Bedeutungen, und ich würde am liebsten so viel wie möglich davon in meiner Musik verarbeiten! Am schönsten wäre natürlich eine EP komplett in appalachischem Shawnee: Die meisten dieser Wörter haben mehrere Bedeutungen, müssen also sehr sorgsam verwendet werden. Dafür würde ich dann auch eine Änderung im bisher überwiegend instrumentalen Charakter NECHOCHWENs riskieren, denn die Sprachen der Algonkin-Familie sind wie erwähnt sehr musikalisch. Nachhören kann man das auch auf der ersten Scheibe, die ich dir sehr ans Herz lege - dort finden sich Shawnee-Fragmente in „Pilawah“ und „Talgayeeta“.
Der Komplex von Vergangenheit und Gegenwart lässt natürlich auch die Frage nach der aktuellen Situation und Stellung amerikanischer Ureinwohner aufkommen: Werden deren Traditionen noch gepflegt, oder haben der moderne amerikanische Lebensstil, die Notwendigkeit der ausnahmslosen Anpassung, alle Spuren assimiliert? Wie steht die amerikanische Öffentlichkeit zu den Indianern – und wie würdest du deine eigene Position beschreiben?
Ich habe soeben einen Werbespot für ein Kreditinstitut gesehen, welches ausschließlich indianische Betreiber hat – neben den fraglos vorhandenen Schwierigkeiten für Ureinwohner gibt es also durchaus Erfolgsgeschichten. Auch sonst scheinen Stammestraditionen wie die erwähnten Pow-Wows ebenso zu wachsen wie das generelle Interesse an indianischer Kultur, aber das könnte an meiner persönlichen Wahrnehmung liegen und ich würde das jetzt nicht zwangsläufig verallgemeinern wollen. Selbst ich bin bisher maximal in fünf oder sechs Reservaten gewesen und habe dem entsprechend nur einen relativ geringen Einblick in die Thematik – für den Großteil der Bevölkerung kann ich daher gar nicht sprechen.
Im lokalen Umfeld gibt es aber durchaus Interesse am indianischen Erbe, was vielleicht auch im historischen Kontext begründet liegt: Als Andrew Jackson 1830 den Indian Removal Act unterzeichnete, standen meine Vorfahren von den Shawnee und Lenape vor der Wahl, sich in Richtung Westen aufzumachen oder sich den weißen Siedlern und deren Kultur anzupassen. Meine Ahnen entschieden sich offensichtlich für Letzteres und blieben in West Virginia (damals Virginia), während ein Großteil der Clans den Weg nach Westen auf sich nahm. Ob dies die richtige Entscheidung war, wird nie geklärt werden, aber mit der Zeit vergaßen die Zurückgebliebenen ihre Traditionen und der letzte reinblütige Indianer starb lange vor meiner Geburt. Für Nicht-Indianer gab es keinen Grund sich damit zu beschäftigen, und in den meisten anderen Familien – wie meiner eigenen - wurde eventuell vorhandenes indianisches Erbe kaum beachtet, bis mich vor vor einigen Jahren dann eben die Neugier überkam.
Mittlerweile ist es nach meinem Empfinden so, dass sich mehr und mehr Menschen dieses Teils ihrer Identität bewusst werden, Wissen darüber sammeln und auch einen gewissen Stolz auf ihre Herkunft entwickeln. Natürlich sind die Traditionen und Praktiken mittlerweile leicht abgewandelt, aber sie kommen wieder und sind vor allem in Gebieten mit indianischer Besiedlung (wie beispielsweise Reservaten) überaus lebendig. Aufgrund meines vergleichsweise geringen Einblicks – ich lebe schließlich nicht dort – kann ich dir leider nichts Genaueres dazu sagen. Ich weiß auch nicht, inwieweit Rassismus ein Thema im Leben von Indianern ist – in meinem persönlichen Umfeld habe ich allerdings sowohl von Indianern als auch von Nicht-Indianern nur Unterstützung für mein Anliegen erfahren.
Spinnen wir den Faden noch ein wenig weiter: Für mich hat es bisweilen den Anschein, als ob Amerika vorrangig über seine moderneren Errungenschaften definiert werden möchte, über technische oder ökonomische Vorherrschaft beispielsweise. Die indigenen Bevölkerungsteile tauchen vor diesem Hintergrund eher als „schmutziges kleines Geheimnis“ auf, vielleicht auch weil die Pionier/Frontier/Wild West-Mythen eine wichtige Säule der moralischen und ideellen Integrität der Nation sind. Kann es sein, dass die Väter des melting pots nur sehr beschränktes Wissen über dessen Zutaten haben und das Ganze durch Hurra-Patriotismus und den Fluch des individuellen Erfolgsstrebens (oder -glaubens) notdürftig zusammenhalten?
Sagen wir so: Themen wie die Sklaverei oder die Ausrottung der Ureinwohner haben für die meisten Amerikaner sicherlich einen bitteren Beigeschmack. Mittlerweile ist es allerdings auch schwierig, dieses Land über Vorreiterrollen zu definieren, denn wenn man den Medien hierzulande Glauben schenkt, dann haben wir sowohl im technologischen als auch im ökonomischen Bereich den Anschluss verloren. Ich weiß nicht, inwieweit das stimmt, aber die öffentliche Meinung ist in dieser Hinsicht nicht unbedingt euphorisch.
Ich würde mich dennoch als stolzen Amerikaner bezeichnen, der individuellen Erfolg nicht so sehr als Fluch begreift, sondern vielmehr als Möglichkeit eine starke Familie aufzubauen und für andere Leute und deren Anliegen einzutreten. Gleiches gilt für meinen tief empfundenen Patriotismus: Ich liebe dieses Land und die Freiheiten, für welche es steht – Freiheiten, die uns in der jüngsten Zeit abhanden kommen, weil diejenigen an der Macht offenbar nicht viel von Freiheit und Wahlmöglichkeiten halten. Aber das wäre genug Stoff für ein weiteres Gespräch.
Was nun die Indianer als „schmutziges kleines Geheimnis“ betrifft, so würde ich sagen, dass der Grund für diese Nichtbeachtung weniger in irgendeiner Form von Hass liegt, sondern eher Ausdruck von Scham und Bedauern ist: Die meisten Gräueltaten liegen zwar schon sehr lange zurück, aber in manchen Dingen zeigt Amerika bis heute eine seltsame Mischung aus Ungerechtigkeit und mangelndem Respekt gegenüber den Indianern und allem, was ihnen heilig ist. Dennoch denke ich, dass der Mainstream und gerade auch die Jugend verstanden haben, wie wichtig die Sache der Indianer ist.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch noch, dass sich die Verfassung und die Bill Of Rights der USA direkt auf irokesische Traditionen berufen, was man unter anderem diesem Ausspruch unseres zweiten Präsidenten John Adams entnehmen kann:
“Die Regierungsform der alten Germanen, ebenso wie die der heutigen Indianer, hat die Trennung der drei Gewalten mit einer Präzision festgeschrieben, die jegliches Missverständnis ausschließt. Darin ist die demokratische Idee insofern angelegt, als dass alle wahre Herrschaftsgewalt vom Volke ausgeht und auf gemeinsamen Beschluss von König, Adel und Bürgertum umgesetzt wird.“
Für unsere Gründerväter hatten indianische Interessen vielleicht nicht unbedingt oberste Priorität, aber offenbar waren sie weise genug eine gute Sache zu erkennen, wenn sie sie sahen. Unsere aktuellen Probleme sind daher vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass wir uns von den Ideen und Idealen entfernen, auf denen diese Nation einst errichtet wurde – und viele davon wurden in direkter Linie aus den Traditionen der Ureinwohner übernommen.
Zu guter Letzt und mit allem Respekt noch ein Wort zum medial vermittelten USA-Bild: Unabhängig von geschichtlichen Belangen sollte man die USA nicht allein durch die Augen von Reuters, AP, BBC und CNN betrachten, denn deren Darstellung entspricht der durchschnittlichen amerikanischen Einstellung mitunter nur bedingt. Amerika wird in meinen Augen gleichermaßen missverstanden und unwürdig repräsentiert, was durch die internationale Berichterstattung noch gefördert wird: Im Fernsehen zeigt man regelmäßig die größten Idioten der Nation und erschafft so ein Bild, dass dem normalen Leben hier selten gerecht wird. Wir sind keinesfalls perfekt, aber als Gesellschaft sind wir meines Erachtens besser als das, was über uns verbreitet wird...
Gesellschaft ist ein schönes Stichwort. Es bringt mich zu einem interessanten Thema, welches ich mit deiner Musik verbinde: Dem Zusammenhang zwischen spirituellen Aspekten und traditionsbewusster Musik auf der einen Seite, der Moderne und dem Fortschritt auf der anderen Seite. Welchen Stellenwert misst die Gesellschaft allgemein – aber auch du persönlich – dem Phänomen der Entschleunigung bei, dem Runterkommen, der Selbstbetrachtung und -hinterfragung? Und weiter: Was fasziniert uns gerade in diesem Zusammenhang immer wieder an der Tradition, warum können wir einfach nicht davon lassen?
Traditionen wiederum sind nicht allein gut, weil sie alt sind, sondern vor allem weil sie authentisch sind. Sie sind das Gegenteil von Plastik und Trend, sie gewähren keine unmittelbare Befriedigung. Traditionen sind eine Mischung aus Logik und Effizienz, Respekt und Gesundheit, sie existieren ausschließlich zum Wohl eines Stammes oder einer Nation. In ihnen kann man erkennen, auf welch verschiedene Weise die Menschen im Laufe der Zeit ihr Leben führten, wie sie ihre Kinder Ehrgefühl und Stolz auf das Werk ihrer Hände lehrten, wie sie ihnen Respekt vor den sie umgebenden Lebewesen beibrachten. Dabei ist es egal, ob es darum geht, Feuer mit zwei Holzstäben zu machen, ein traditionelles Lied weiterzugeben, Spuren zu lesen, oder auch nur darum, dass man die Älteren freundlich und respektvoll behandelt – Traditionen sind im Grunde heilsame Wege, die Verbindungen der Welt zu erkennen.
Die Bequemlichkeiten der Moderne dagegen machen uns als Lebewesen leerer, sie erzeugen Inkompetenz in grundlegenden Techniken und entfremden uns von der Einsicht, dass wir eigentlich nur ein weiterer Bestandteil des Tierreichs sind. Ich denke mittlerweile, dass wir zu Tech-Zombies verkommen – aber wie wäre es, wenn man mit dem Sprechen warten würde, bis man etwas Wichtiges zu sagen hat, anstatt jederzeit und überall noch die kleinste Gemütsregung herauszuposaunen? Ich sage: Geht raus an die Luft, seid still und hört einfach nur auf die Eindrücke, die auf euch einströmen! Macht das überhaupt noch irgendwer? Wahrscheinlich finden die meisten Leute erst dann an spirituellen Fragen Gefallen, wenn sie so alt, kaputt oder krank sind, dass der Körper nur noch ein Gefängnis aus Fleisch ist – dann werden die alten Wege plötzlich interessant.
Damit wären wir dann auch schon bei der Dichotomie, die nach manchen Auffassungen unser Lebensumfeld prägt: Auf der einen Seite finden sich rationale Strukturen, funktionale Subsysteme, Distanz, zersplitterte Rollenbilder und daraus resultierende Entfremdung – auf der anderen Seite steht das Bedürfnis nach emotionaler Erfahrung und Teilhabe, nach fühlbarer Lebendigkeit, sowie die Sehnsucht nach körperlicher Unmittelbarkeit - von Yoga und Baummeditation bis „Fight Club“. Welche Rolle spielen die auf deinen Alben thematisierten Rituale in diesem Spannungsfeld, welche Praktiken und Totems empfindest du persönlich als Bereicherung und Hilfe beim Umgang mit diesen Extremen?
Was die Unmittelbarkeit und den direkten Kontakt betrifft, so glaube ich, dass der Mensch als Spezies schon immer eine Art Erlebnissucht in sich trug – wir sind geborene Thrill-Seeker. Bestes Beispiel dafür sind die zahllosen Kriege, die man als vielleicht extremste Form der körperlichen Nähe betrachten kann. Ich will nicht zynisch erscheinen, aber Menschen neigen dazu, sich zu langweilen, sie werden niedergeschlagen und suchen in der Folge etwas, dass die so empfundene Leere in ihrem Leben füllen kann und sie wieder aufbaut. Der Drang nach dieser Art von Erlebnissen ist meines Erachtens ein integraler Bestandteil der menschlichen Natur und wir werden ihm dem entsprechend auch immer wieder nachgeben. Ich persönlich würde mich nicht unbedingt als Draufgänger bezeichnen, aber auf mich üben zum Beispiel die Gefahren und Unwägbarkeiten der Natur einen Reiz aus, den ich zweifellos in dieser Ecke ansiedeln würde.
Etwas konkreter kann ich dir zum zweiten Teil der Frage Auskunft geben, denn ich bin ein stolzes Mitglied des kleinen Stammes der Loyalhanna Sewickley, einem Ableger der Shawnee in Pennsylvania. Unser erklärtes Ziel ist es, sehr alte Traditionen zu erforschen und zu erhalten, darunter sehr viele, die in Verbindung mit Tieren stehen (und daher vielleicht unter den Totemismus-Begriff fallen). Ich persönlich bin von der Wirksamkeit dieser Praktiken überzeugt und ich fühle mich ungleich lebendiger, wenn ich meiner Dankbarkeit durch heilige Zeremonien Ausdruck verleihe, um die Welt zu bereichern und vielleicht ein wenig besser zu machen. Wir nennen diese Treffen übrigens niyowemliito ilanitowin, denn es handelt sich dabei weniger um Rituale, sondern eher um heilige Zusammenkünfte zu Ehren von – und aus Dankbarkeit gegenüber – allen möglichen Dingen vom Hirsch bis hin zu Getreidepflanzen. Daneben gibt es Tanzveranstaltungen, Gebete und sogar ein Football-Event, aber unser Antrieb ist immer die Freude an allem Lebendigen, die einfach ein gutes Gefühl hinterlässt. In der Hektik des modernen, normalen Lebens vermisse ich dieses Gefühl natürlich manchmal, aber es existiert in meinem Kopf und in diesem Zusammenhang sind die beiden CDs von NECHOCHWEN für mich auch so etwas wie zusätzliche Danksagungszeremonien.
Einige meiner beeindruckendsten Erlebnisse drehten sich um Botschaften von Tieren. Das klingt vielleicht seltsam, aber im Grunde beinhalten diese Praktiken einen bestimmten Blick auf die Dinge um uns herum: Wenn man Tiere und Pflanzen als Einzelwesen betrachtet, als minderwertige und isolierte Elemente der Landschaft, dann wird man von ihnen unter Umständen ebenso behandelt und ignoriert. Wenn man sie wiederum mit dem Herzen betrachtet, sie als eine Art eigenen Staat akzeptiert, dann wird beispielsweise das jeweilige Totemtier zu einem Botschafter, der zwischen den Reichen vermittelt. Ich habe mir diese Ansicht zu eigen gemacht und seitdem ein wenig über die Art und Weise erfahren, wie diese anderen Reiche funktionieren – und auch darüber, wie sie uns in manchen Dingen überlegen sind.
Schließen wir das Ganze mit einer letzten Frage ab: Bitte erzähle doch ein wenig über die Masken, die ihr tragt. Auf euren Konzerten scheint ihr sie nicht dabei zu haben (das sieht für mich eher nach Country aus), also sind sie entweder ein neues Element – oder etwas Heiliges...
Die Bilder, die du vielleicht gesehen hast, stammen ausnahmsweise nicht von einem Country-Konzert, sondern wahrscheinlich vom Heathen Crusade III. Dort waren Bands wie METSATÖLL, INQUISITION und MOONSORROW, und dazu gab ich ein Soloprogramm von NECHOCHWEN zum Besten. Ansonsten hatten wir noch ein paar Impressionen vom Mesquite Heat online, einer Show des öffentlichen Rundfunks in Texas, bei der eine ziemlich gute Tex-Mex-Band gespielt hat und wir mit FOREST OF THE SOUL eingeladen waren. Nichtsdestotrotz gibt es hier natürlich auch ein großes Country-Festival und man sollte ganz allgemein nicht überrascht sein, wenn auf den meisten Konzerten in der Gegend eine Mischung aus entfesselter Biervernichtung, Cowboystiefeln und den zugehörigen Hüten findet – das ist schließlich West Virginia und hier ist das eine ziemlich vertraute Kombination. Gut, REGURGITATE haben sich auch schon hierher verirrt, aber das ist eher die Ausnahme. Insgesamt sind wir wahrscheinlich ein ruhiges und bodenständiges Volk...
...bleiben wir noch kurz dabei. Als ich euer Album zum ersten Mal hörte, fragte ich mich unmittelbar, welcher Schlag Menschen wohl auf eure Konzerte kommt und wo ihr auftretet. Vielleicht ist es meiner Ignoranz geschuldet, aber während ich mir das potenzielle NECHOCHWEN-Publikum in Europa aufgrund der romantischen Tradition und der vielfältigen kulturellen Wurzeln einigermaßen vorstellen kann, habe ich offenbar keinen Schimmer vom amerikanischen Gegenpart. Wo spielt ihr, wer kommt zu den Gigs?
Zunächst spiele ich nicht allzu oft Konzerte, zumindest nicht mit NECHOCHWEN. Es ist eher so, dass ich gelegentlich ein paar NECHOCHWEN-Songs an dem College aufführe, in dem ich lehre. Der einzige echte Auftritt war der bereits erwähnte auf dem Heathen Crusade in Minnesota, zumal ich da auch noch alles alleine spielen konnte. Mittlerweile habe ich allerdings viele Stücke, für welche man vier oder mehr Leute benötigt, um sie live angemessen umzusetzen, was das Ganze ein wenig erschwert. Nicht zuletzt bin ich eher an Nachforschungen, am Schreiben und Aufnehmen von Musik interessiert.
Das zweite Problem hier sind geeignete Clubs, obwohl man mit etwas PR-Arbeit sicher eine ausreichende Anzahl von Besuchern motivieren könnte. Die Leute sind eigentlich stets auf der Suche nach musikalisch interessanten und thematisch ungewöhnlichen Projekten und diese Offenheit für Neues ist in meinen Augen eine große Stärke der Amerikaner, zumindest in Pittsburgh und Minneapolis. Auf der anderen Seite bin ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr als Gast auf einem Konzert gewesen und kann daher nur wenig dazu sagen. Den nervigsten Typen habe ich jedenfalls bei DARK TRANQUILLITY getroffen, die damals den langen Weg aus Schweden nach Pittsburgh gekommen sind: Er hat die Band über die komplette Länge des Konzerts mit Zwischenrufen unterbrochen. Das war allerdings wirklich ein Einzelfall.
Damit zurück in die Zukunft: Du hast letztlich einen Song zu einem Caspar David Friedrich-Sampler beigesteuert – wie kam es dazu, was hältst du von Friedrich, wo siehst du Verbindungen der vertretenen Bands untereinander?
Es handelt sich dabei um „Der Wanderer über dem Nebelmeer“, eine Doppel-CD von Pest Productions, die meines Wissens durch Prophecy vertrieben wird. Mein Interesse wurde durch die Bemerkung eines anderen Künstlers geweckt, und nachdem ich das Bild gesehen hatte, war mir klar, dass es keinem, der es betrachtet, jemals wieder aus dem Kopf gehen würde.
Da seitens des Initiators eine gewisse künstlerische Freiheit gewährt und sogar gewünscht wurde, habe ich meinem Beitrag einen appalachischen Unterton verpasst. Mittlerweile fällt es mir schwer, den Song zu hören, denn er ist wirklich gut – aber eben auch unglaublich bedrückend. Paradoxerweise habe ich dadurch wahrscheinlich mein Ziel erreicht, denn in dem Stück geht es um einen Mann aus der Gegend, der zur Zeit der Großen Depression in extremer Armut lebt und versucht, sich und seine Kinder am Leben zu halten. Dieser Mann ist in gewisser Hinsicht dem Mann auf dem Bild ähnlich: Allein, mit Blick auf eine unermessliche Weite, die gewissermaßen ein Symbol für das Ausmaß seiner Angst, seiner Einsamkeit und seiner Trauer über das Schicksal seiner Frau ist. Der Song selbst ist das erste Stück von NECHOCHWEN, bei dem ich mit verzerrten Gitarren, Schlagzeug und Bass experimentiert habe, damals noch als einmaliges Experiment. Wie wir alle wissen, habe ich diesen Weg dann auf „Azimuths...“ weiter verfolgt.
Was nun Caspar David Friedrich betrifft, so mag ich wirklich alles, was ich bisher von seinem Werk gesehen habe. Es war allerdings eine seltsame Vorstellung, dass sich ausgerechnet eine Gruppe von, sagen wir: Avantgardemusikern, trifft, um einen traditionellen Künstler zu ehren, der vor 200 Jahren gelebt hat. Das Gute daran: Ich habe neben den geschätzten AGALLOCH, OCTOBER FALLS und MUSK OX auch einige Bands entdeckt, die mir bisher nicht bekannt waren. Überhaupt gefallen mir die Zusammenstellung des Samplers und das Pest-Roster ziemlich gut – Verbindungen gibt es notgedrungen natürlich eher zu den nordamerikanischen Vertretern.
Sprechen wir ein wenig über dein Label Bindrune. Die dort vertretenen Bands muten zuweilen etwas obskur an und NECHOCHWEN könnte man vielleicht noch als einen der zugänglicheren Vertreter bezeichnen. Wie bist du bei Bindrune gelandet, gibt es eine Philosophie hinter der Bandauswahl? Und welche Bands könnten jenen gefallen, die NECHOCHWEN mögen?
Mit Bindrune bin ich erstmals auf dem dritten Heathen Crusade in Berührung gekommen. Das Merch-Zelt des Labels stand direkt neben der Bühne, auf welcher ich spielte, also drückte ich Marty Rytkonen am Ende des Festivals unser Debüt in die Hand und meinte „Danke, dass du das ganze Wochenende zugehört hast.“ Offenbar hat er die Scheibe im folgenden Winter dann auch ausgiebig gehört, denn als ich das nächste Mal von ihm hörte, bot er mir einen großartigen Deal an.
Das Label an sich bietet seinen Künstlern sehr viel Rückhalt, es herrscht eine offene Atmosphäre und wir arbeiten einfach sehr gut zusammen. Ich bin wirklich glücklich.
Dazu kommt mein Eindruck, dass Marty ähnliche Dinge bewahren möchte wie ich: Nicht der Profit steht im Vordergrund, sondern die Förderung von Musik und Künstlern, die eng mit der Natur verbunden sind. Aus dieser Perspektive passt dann auch NECHOCHWEN ins Roster, obwohl sich auf Bindrune viel um obskure, ungewöhnliche Black Metal-Projekte dreht. CELESTIIAL und BLOOD OF THE BLACK OWL arbeiten übrigens ebenfalls mit indigenem Hintergrund und versuchen ein Bewusstsein für Natur zu erschaffen, OBSEQUIAE könnten aufgrund ihrer großartigen Gitarrenharmonien vielleicht interessant für Freunde von „Azimuths...“ sein.
Wenn man sich deine Myspace-Seite anschaut, dann könnte man dich angesichts der vielen Projekte für ein Arbeitstier halten. Welche davon sind aktuell aktiv und womit beschäftigst du dich jeweils?
Momentan sieht es so aus: Vor kurzem ist eine Split namens „Unholy Conception“ erschienen, zu welcher ich die Seite von THE INFIRMARY beigesteuert habe. Die zweite Band der Split sind THE REPRISAL – für deren Beitrag habe ich die Sologitarren eingespielt. Das Material für THE INFIRMARY – im Übrigen mein erster Versuch als Death Metal-Sänger - brodelt schon eine ganze Weile in mir, aber es erst jetzt haben die Umstände gepasst. Musikalisch handelt es sich um Death Metal zwischen DECAPITATED, AT THE GATES und INCANTATION, lyrisch ging es mir schlicht darum, abgefahrene Geschichten zu erzählen.
Aktuell arbeite ich am neuen Album von FOREST OF THE SOUL, welches voraussichtlich Ende des Jahres erscheinen wird. Es wird ein Mix aus neuen Stücken und ein paar älteren Songs, die wir komplett überarbeitet haben. Musikalisch handelt es sich bei diesem Projekt um akustische Gitarrenmusik, es gibt also reichlich Folk und Gezupftes. Auf der zweiten Scheibe haben wir uns ein wenig von den klassischen Sachen entfernt, und stehen nun mit einem Bein im Singer/Songwriter-Genre. Das Album wird übrigens eine Menge Bonustracks enthalten, denn wir haben altes FOREST-Material und ein paar ANGELRUST-Sachen neu eingespielt, um das Paket abzurunden.
Wo wir gerade bei ANGELRUST sind: Deren letzte Scheibe „The Nightmare Unfolds“ wurde vor kurzem von Stronghold Records neu aufgelegt. Meiner Meinung nach eine exzellente Scheibe und auf jeden Fall die beste, die wir als ANGELRUST veröffentlicht haben.
Mein letztes aktuelles Projekt ist schließlich ein weiteres Album mit klassischer Gitarrenmusik, mit welchem ich Geld für die Krebsforschung auftreiben möchte. Meine Mutter ist letztes Jahr an Krebs erkrankt und ich habe mich absolut hilflos gefühlt – dieses Projekt ist die Waffe meiner Wahl im Kampf gegen diese schreckliche Krankheit.
Dafür die besten Wünsche von meiner Seite! Lass uns abschließend einen Blick in die Zukunft wagen: Was wird dich in den kommenden Monaten beschäftigen, und wird man NECHOCHWEN jemals außerhalb der Staaten auf der Bühne sehen?
Abgesehen vom erwähnten FOREST OF THE SOUL-Album, für welches ich noch ein paar Gastmusiker begeistern möchte, stehen demnächst Backing Vocals für eine Death Metal-Band namens ENTROPY im Kalender. Für NECHOCHWEN existieren bereits ein paar Fragmente, allerdings entstehen die Alben meist in einem Rutsch kurz vor den Aufnahmen. Nach FOREST OF THE SOULS hat neues Material für NECHOCHWEN aber auf jeden Fall oberste Priorität.
Abseits der Musik ist mein größtes Projekt sicherlich die Transkription alter Shawnee-Songs und anderer Stücke aus der Algonkin-Familie. Ich habe keine Ahnung, ob diese Lieder aktuell überhaupt noch jemand singt und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie seit Ewigkeiten überwintert haben – aber vielleicht ist die Zeit gekommen, sie erneut zu lernen und zu singen. Vielleicht werden wir sie eines Tages als Stamm aufnehmen und sie so für die Nachwelt bewahren.
Und damit zum Thema Konzerte in Übersee: Für mich wäre es natürlich eine unglaubliche Ehre, wenn es zu einem derartigen Konzert kommen würde! Es wäre zudem eine gute Motivation, sich endlich nach einer Liveband umzusehen, mit der man die aktuellen Songs auch angemessen umsetzen kann. Dazu kommt, dass ich Vorfahren aus der Schweiz, aus Deutschland und Irland habe – die Heimat der Familie meines Vaters zu sehen ist daher ein Traum von mir, den ich hoffentlich verwirklichen kann, bevor ich alt bin. Und dann würde ich natürlich gern nach Japan und nach Australien... ...aber sagen wir so: NECHOCHWEN-Shows, in Amerika und international, werden sicherlich nicht heute oder morgen stattfinden, aber sie sind ein Ziel, das ich nicht aus den Augen verliere.
Ein schöner Ausblick und von meiner Seite auch der Schlusspunkt dieses Interviews. Aaron, herzlichen Dank für dieses Monster, für deine Geduld und für die Möglichkeit, einen ausführlichen Blick auf NECHOCHWEN und deine persönlichen Gedanken werfen zu dürfen. Ich wünsche dir das Beste und hoffe, wir lesen dann zur nächsten Scheibe erneut voneinander – die letzten Worte sollen traditionell die deinen sein:
Ich danke dir für die Gelegenheit, NECHOCHWEN derart umfassend vorzustellen! Die Fragen waren äußerst interessant, zumal ich in manchen Dingen wirklich überlegen musste, wie genau ich meine Gedanken und Einstellungen denn nun in Worte fassen kann, wie ich mich selbst und meinen Platz im größeren Ganzen sehe. Ich hoffe, dass wir das in Zukunft fortsetzen können – entweder in Europa oder hier bei uns in den Staaten.
Die besten Wünsche, Aaron.